Was ist Zug?

Druck ist unökonomisch auf längere Sicht. Druck ist in den meisten Fällen kontraproduktiv. Der Schaden, den Druck erzeugt, besteht in Halden, die Kapital binden oder gar verbrennen, und in Verformungen von Ressourcen, die deren Leistungsfähigkeit schrittweise reduzieren. Darüber habe ich im vorherigen Posting geschrieben.

Bewegung in Richtung eines Ziels kann aber nicht nur durch Druck (push) stattfinden. Druck mag zwar naheliegen und eine lange Geschichte haben – aber es geht auch anders. Es geht auch mit Zug (pull).

Zug ist das Gegenteil von Druck. Aber woran kann man Zug erkennen, wie kann man Zug herstellen?

Ich glaube, Zug braucht nicht viel. Arbeit findet schon im pull-Modus statt wenn sie...

  • …selbstbestimmt und…
  • …auf ein selbstgewähltes Ziel ausgerichtet ist.

Das sind die primären Merkmale von Zug.

  • Das Ziel sichert zu, dass ein Ergebnis entsteht.
  • Selbstgewählt muss das Ziel sein, um Verformungen zu vermeiden. Wer nicht tut, was er möchte, wer nicht versteht, was er tun soll, der verbiegt sich auf Dauer. Das bedeutet natürlich nicht, niemand dürfte einem anderen ein Ziel vorschlagen. Mehr aber auch nicht. Ein Vorschlag ist ein Angebot, das man ablehnen kann. Eine Bitte äußert nur, wer auch ein Nein akzeptieren kann. Ohne Angebot, ohne Bitte findet jedoch keine Wahl statt; es gibt ja keine Entscheidungsfreiheit.
  • Selbstbestimmt muss die Arbeit sein, um Verformungen zu vermeiden. Im Zug besteht Freiheit der Wahl im Hinblick auf Zeit, Ort, Mittel, um das Ziel zu erreichen. Dazu gehört natürlich auch, Begrenzungen dieser Selbstbestimmung zu akzeptieren.

Zug setzt also fundamental Wahl voraus. Wer keine Wahl hat, wem keine alternativen Optionen offenstehen, der gerät leicht unter Druck.

Bedeutet das aber Chaos? Nein. Lässt sich damit ein Unternehmen betreiben oder eine Software auf den Markt bringen? Ja. Das beweist nämlich jedes Unternehmen durch seine Existenz. Unternehmen sind per definitionem selbstbestimmte Einheiten, die ein selbstgewähltes Ziel verfolgen.

imageUnsere ganze Marktwirtschaft basiert auf Zug. Denn Nachfrage ist nichts anderes als Zug. Unternehmen reagieren auf Nachfrage mit Produktion. In der Marktwirtschaft gibt es keinen Druck. Der könnte zwar durch systemrelevante Größen entstehen, doch davor schützen (weitgehend) Regulierungsmaßnahmen.

Das Gegenteil hat man im Kommunismus versucht. Dort herrschte Druck. Dort wurde Produktion verordnet und Konsum quasi erzwungen. Unternehmerische Selbstbestimmung gab es nur in Ausnahmefällen. Die historische Quittung für einen solchen Versuch der Steuerung über Druck ist ausgestellt. Es hat nicht funktioniert. Historisch gesehen ist der Kommunismus mit seiner Planwirtschaft ein Experiment von kurzer Dauer gewesen.

Was im Großen wunderbar funktioniert und kein Unternehmer und auch kein Manager missen möchte, soll nun im Kleinen, d.h. Unternehmen nicht funktionieren. Viel, viel einfachere Gebilde als eine Nation oder auch die ganze Welt sollen mit Zug nicht erfolgreich sein können? Das kann ich nicht glauben.

Zugegeben, mit Druck Ziele zu erreichen, ist zunächst einfacher. Aber ist es auf Dauer erfolgreicher? Ist es erfolgreicher für ein Unternehmen? Ist es erfolgreicher für die Gesellschaft? Ich glaube weder das eine noch das andere.

Selbstbestimmte Arbeit auf selbstgewählte Ziele führt nicht ins Chaos. Sie ist vielmehr die Bedingung für die Möglichkeit von mehr Flexibilität, Reaktionsschnelligkeit, Innovationsfähigkeit und Freude.

Denn wer sagt, dass selbstbestimmte Projektbeteiligte nicht dasselbe wollen können? Wer sagt, dass die nicht kohärent und konsequent auf dasselbe Ziel hin arbeiten können?

Selbstbestimmung und Entscheidungsfreiheit bedeuten nicht, dass es keine Einschränkungen geben darf. Sich die nächsten 3 Jahre auf die Entwicklung eines CRM-Systems zu konzentrieren, sich auf die Nutzung von Java und Eclipse zu beschränken, alle Arbeit im Büro zu verrichten, sich bei der Arbeit durch zugerufene Aufträge unterbrechen lassen… all das ist mit Selbstbestimmung und Entscheidungsfreiheit vereinbar. Es ist sogar mit ihr vereinbar, den Weisungen von jemandem anderen zu folgen.

Das alles schränkt Selbstbestimmung und Entscheidungsfreiheit nicht ein, solange es immer wieder in Frage gestellt werden darf. Solange Beschränkungen freiwillig sind und nicht die Reflexion über sie inklusive Möglichkeit zur Veränderung aushebeln, sind sie Mittel, die der Erreichung des Zieles dienen können.

Manche Mittel mögen dabei träger sein als andere. Unternehmensstandort oder Geschäftsmodell stehen eher weniger häufig zur Disposition als Arbeitszeit oder Entwicklungsplattform. Letztlich sollte es jedoch kein Tabu geben.

Umgekehrt bedeutet das, je mehr Beschränkungen es gibt, je größer Tabuzonen, je seltener und enger die Reflexion, desto geringer Selbstbestimmung und damit auch Zug.

Und wie soll nun ein Unternehmen seine Ziele erreichen können, wenn seine grundsätzliche interne Funktionsweise die einer Marktwirtschaft ist? In Prozessen. Wie denn sonst? Das funktioniert doch auch im Großen. Wo bedarf ist, bilden sich Prozesse, die Rohstoffe in Produkte umwandeln.

Sie haben Strom, Wasser, ein Dach über dem Kopf, einen überquellenden Supermarkt, ein Auto, einen Computer, Bücher… Sie leben nicht “von der Hand in den Mund”, d.h. ohne Prozesse. Sie sind vielmehr Endpunkte und Bestandteile eines komplexen Prozessnetzwerks.

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Für ein Papierbuch greifen Holzproduktion, Papierproduktion, Druck, Vertrieb, Buchhandel ineinander, um Ihnen den Gegenstand in die Hand zu bringen. Damit der auch noch einen Inhalt hat – sonst hätten Sie das Buch kaum nachgefragt –, stößt von der Seite ein zweiter Prozesse beim Druck dazu. Da greifen Autor, Lektor, Layout ineinander.

Alle arbeiten autonom. Überall herrscht Zug [1]. Und das Ganze funktioniert. Es gibt keinen Mangel an Büchern.

Warum nun sollte die Arbeit in selbstorganisierten Prozessen innerhalb (!) von Unternehmen nicht funktionieren? Unternehmen, die so nicht arbeiten können, d.h. wollen, und behaupten, das ginge nicht, sind für mich keine Experten. Würden wir denen glauben, hätten wir auch keine Eisenbahn. Denn Reit-Experten hatten vor deren Erfindung vorausgesagt, dass der Mensch bei größerer als Galoppgeschwindigkeit schlicht ersticken würde.

Damit selbstbestimmte Einheiten in Prozessen nicht unter Druck geraten, muss allerdings noch eine Voraussetzung geschaffen werden. Die Einheiten müssen entkoppelt sein. Ohne Entkopplung keine Autonomie.

imageDas Mittel zur Entkopplung sind Warteschlangen. Der Materialfluss zwischen Prozessschritten ist also nicht synchron, sondern asynchron. Eine upstream Einheit darf der folgenden Einheit nichts diktieren. Es gibt nicht einmal einen direkten Kontakt zwischen beiden Einheiten. Zwischen ihnen steht vielmehr eine Warteschlange oder allgemeiner ein Puffer.

Upstream Einheiten schieben ihre Erzeugnisse lediglich in Puffer. Auf die dürfen sie Druck ausüben. Das sichert auch ihnen Autonomie zu.

Downstream Einheiten entnehmen aus ihnen vorgelagerten Puffern das Material, an dem sie arbeiten wollen. Wann sie wollen. Das sichert ihnen Autonomie zu.

In den Prozessen der Marktwirtschaft gibt es überall diese Puffer. Der Holzproduzent kann einen solchen Puffer haben: das sind Stapel geschlagenen Holzes im Wald. Der Papierproduzent kann einen solchen Puffer im Eingang haben – er lagert eingekauftes Holz bis zur Verarbeitung – und/oder im Ausgang – er lagert produziertes Papier bis zum Verkauf. Der Drucker hat auch einen solchen Puffer im Eingang usw.

Es gibt sogar Marktteilnehmer, die das Puffern zu ihrem Geschäft gemacht haben: Grossisten, Logistiker, Supermärkte…

Dass es in der Marktwirtschaft einen Trend zu kleineren Puffern und zu mehr just-in-time Produktion gibt, widerspricht nicht dem pull-Prinzip. Selbst wenn es keine Puffer mehr gäbe, weil alles ad hoc JIT produziert und geliefert werden könnte, würde immer noch ausschließlich nach Bedarf produziert. Das bedeutet, es würde nur auf Zug produziert [2].

Dass selbstbestimmte Einheiten entkoppelt durch Warteschlangen in Prozessen erfolgreich arbeiten, ist natürlich kein Selbstgänger. (Dass Einheiten unter Druck erfolgreich arbeiten, aber auch nicht.)

Mehrerlei ist ständig zu beobachten:

  • Sind die Prozesse und die Produktionseinheiten auf das Ziel ausgerichtet (Kohärenz, Alignment)?
  • Wie sind die Puffer dimensioniert und ausgelastet? 
  • Wie sind die Kapazitäten der Produktionseinheiten dimensioniert und ausgenutzt?
  • Wie sind die Kapazitäten der Produktionseinheiten auf einander abgestimmt?

An all diesen Parametern kann und muss man schrauben für ein optimales Ganzes.

Aber das ist der Trick: Es geht um ein optimales Ganzes und nicht einheitenbezogene Optimierung. Und es steht vor allem eines nicht zur Debatte: die Autonomie der Produktionseinheiten. Deren Aufgabe ist schlicht, ihre Kapazität auf die Entnahme von Material aus Puffern, dessen Transformation und die Übertragung von Resultaten in Puffer zu konzentrieren.

Aus Puffern arbeiten für Puffer. Darum geht es. Alles daran geschieht in Selbstbestimmung – aber nicht auf Kosten des Ganzen. Dafür wird durch periodische Reflexion gesorgt. Dafür sorgen aber auch Puffer- und Kapazitätsbegrenzungen. Ultimativ ergeben die sich aus dem Markt für den die Prozesse produzieren. Dessen Begrenzungen wirken zurück auf den Prozess. Sie üben “back pressure” aus, dem sich die Dimensionierungen von Puffern und Produktionseinheiten nicht dauerhaft entziehen können.

Aber auch wenn hier Druck ins Spiel kommt, widerspricht das nicht dem Prinzip der Produktion im Zug. Im Gegenteil! Dem Druck von außen kann am ehesten entsprochen werden, wenn intern die Organisation möglichst flüssig ist. Und das ist sie, wenn sie aus lose gekoppelten autonomen Einheiten besteht. Der Beweis kommt wieder aus der Marktwirtschaft. Wenn sie sich nicht als flexibel, ja geradezu antifragil erwiesen hat, was dann?

Nochmal zum Abschluss:

Zug herrscht umso mehr, je selbstbestimmter entkoppelte Produktionseinheiten in einem Prozess auf ein Ziel ausgerichtet sind.

Inwiefern das bei Ihnen der Fall ist, können Sie ja mal überlegen. Wie selbstbestimmt fühlen Sie sich in Ihrer Arbeit? Welche Begrenzungen gibt es, wieviele davon dürfen Sie hinterfragen oder gar aufheben? Findet Hinterfragen (Reflexion) statt? Was sind die Ziele Ihrer Arbeit? Wieviele und auf welcher Ebene davon sind wirklich Ihre eigenen? Wie klar sind die Prozesse zur Erreichung dieser Ziele? Gibt es Puffer, wie sichtbar sind sie? Haben die Puffer eine definierte Kapazität? Geschieht der Materialfluss ausschließlich über Puffer und in Autonomie?

 

imagePS: Ich habe mir selbst auch diese Fragen gestellt. Die Antworten waren ernüchternd. Als Selbstständiger arbeite ich natürlich grundsätzlich autonom. Aber ich habe mich selbst unter Druck setzen lassen, indem ich Puffer abgebaut habe. Das Ergebnis: Ich habe wichtige Aufgaben nicht verlässlich erledigt. Bedient wurde vor allem das Dringende.

Darauf habe ich nun reagiert. Ich habe alle Notifikationen abgestellt. Ich lasse mich nicht mehr unterbrechen, nicht von Email, nicht von Twitter, Facebook, einem Newsreader, SMS oder Telefon [3]. Alle Informationen, die zu mir fließen, fließen in Puffer. Aus denen Bediene ich mich, wenn ich Lust oder Bedarf habe. So schütze ich meine Autonomie.

Das bedingt natürlich, dass ich diese Puffer auch tatsächlich prüfe, um für meine Umwelt verlässlich zu sein. Doch das ist eben meine selbstgewählte Aufgabe. Wenn ich Beziehungen haben will – berufliche wie private –, dann muss ich mich um deren Input kümmern. Das bedeutet jedoch nicht, dass ich mich von ihm bestimmen lasse. Ich kümmere mich, wann ich will – mit allen Konsequenzen.

Endnoten

[1] Zug herrscht selbstverständlich im Herstellungsprozess des physischen Buches. Die Beteiligten sind Unternehmen. Zug herrscht auch zwischen Lektor und Autor. Lektor und Layout und Vertrieb sitzen traditionell jedoch in einem Verlag. Der mag als Unternehmen intern noch über Druck organisiert sein. Das vernachlässige ich hier aber einmal. Es geht ja auch anders, wie freie Lektoren und freie Layouter beweisen. In Zukunft wird sich auch gerade hier einiges durch die Möglichkeiten des self-publishing verändern. Autoren sind nicht mehr auf Verlage angewiesen. Die Buchveröffentlichungskompetenz der Verlage schrumpft damit auf ihren Vertrieb bzw. ihre Reichweite zur Sichtbarmachung von Titeln zusammen.

[2] Ein Merkmal von Druck sind Halten. Was ist der Unterschied zwischen einer Warteschlage bzw. einem Puffer und einer Halde? Halden sind ungewollte Puffer. Halden entstehen, wo die Kapazität von Puffern überschritten wird. Das geschieht natürlich sofort, wo die Puffergröße 0 ist und angeliefertes Material (oder ein Auftrag) nicht sofort verarbeitet wird.

Wo das Material im Fluss wenig materiell ist – hört sich nach einem Gegensatz an, oder? ;-) -, also bei “Knowledgeprozessen” wie der Softwareentwicklung, sind Halden allerdings selten sichtbar. Sie sind nicht sichtbar, weil es sie scheinbar nicht gibt. Man lässt neue Aufgaben sich einfach nicht irgendwo zwischen Produktionsschritten auftürmen, sondern nimmt sie an. Man tut so, als würde man sofort mit der Verarbeitung beginnen. Der Wille dazu mag auch da sein – nur die Kapazität ist es oft nicht. Denn mit jeder weiteren angenommenen, aber noch nicht abgeschlossenen Aufgabe sinkt die Kapazität zur Bewältigung einer Aufgabe. Dazu kommen “Umschaltkosten” für den Wechsel zwischen Aufgaben.

Das Ergebnis ist Unzuverlässigkeit der Produktionseinheit. Aber da keine Halde sichtbar ist, da noch nicht einmal sichtbar ist, wieviele Aufgaben gerade in Arbeit sind, ist die Unzuverlässigkeit immer wieder ein Mysterium – dem man mit mehr Druck versucht Herr zu werden.

[3] Nur noch für Privates lasse ich mich durch Whatsapp unterbrechen.


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