The Wilderness Downtown: Zukunft ist jetzt

Das Land der Dichter und Denker, der Erfinder und Erbauer, so sieht sich Deutschland auch im ersten Jahrzehnt nach dem Jahrtausendwechsel. Dabei ist der letzte Beitrag zur Fortschreibung der Moderne, den ein Deutscher geliefert hat, auch schon wieder mehr als 20 Jahre her: Karlheinz Brandenburg, ein vollbärtiger Techno-Taliban, dachte sich damals das Musikkompressionsverfahren MP3 aus.
Seitdem kommt nichts mehr, seitdem schauen die besten Denker Deutschlands zu, wie anderswo die Leitplanken der Zukunft geplant und aufgestellt werden. Den ersten MP3-Player baute seinerzeit eine deutsche Firma, die anschließend an ihrem Produkt bankrott ging. Deutsche bauen seitdem wieder Auto, wie schon hundert Jahre lang. Während sich andere um die Weiterentwicklung deutscher Ideen kümmern: Plasmafernseher aus Korea, MP3-Player aus China, Suchmaschinen aus Amerika, Hybridantriebe aus Japan.
Die Deutschen, Erfinder der Weltraumrakete und des konventionellen Gasangriffs, stehen skeptisch dabei. Ob das wohl gut geht? Alles, was neu ist, wird abgelehnt, egal ob Street View oder Kreditkarte, GPS-Handy oder Facebook-Account. Seit dem ein Deutscher den Stapelstuhl erfunden hat, ist dem Deutschen jede Fortentwicklung suspekt. Über eine Chipkarte für Kranke wird so lange diskutiert, bis eine Chipkarte so alt und unpraktisch ist wie ein DDR-SV-Buch, die Einführung von kommunaler Verwaltung über das Internet dauert so andauernd, dass Wernher von Braun in derselben Zeit mit denselben Mitteln schon auf dem Mars gelandet wäre.
Die ehemalige Hightech-Nation "Deutschland schafft sich ab" (Sarrazin) und braucht dazu nicht einmal physisches Aussterben. Auch aus dem Internet, ursprünglich eine europäische Idee, haben sich deutsche Politik und Forschung verabschiedet. In der Arbeitsgruppe WHATWG, die mit HTML5 den nächsten Standard für multimediale Webinhalte erarbeitet, sitzen Mozilla Foundation, Google und Apple aus den USA, Opera aus Norwegen und zahlreiche andere Firmen. Deutsche sind nicht darunter.
Dabei ist beeindruckend, was das ursprünglich "Web Applications 1.0" genannte Format durch erweiterbare Widgets möglich macht. Die kanadische Band Arcade Fire hat ihren Song “We Used to Wait” aus dem neuen Album "The Suburbs" für das Projekt “The Wilderness Downtown” bereitgestellt, mit dem der Regisseur The Suburbs und Google versuchen, die Perspektiven von HTML5 zu verdeutlichen. Videos lassen sich mit dem Code "Modernizr.geolocation" mit Karten und Street-View-Ansichten verbinden, Videoteile laufen nebeneinander, Fenster ploppen auf und wieder zu, Perspektiven folgen nicht mehr nacheinander, sondern wie im Split-Screen-Hit "24" nebeneinander und übereinander.
Vor allem die Geolocation-Funktion, die Chris Milk einsetzt, um seinen Videohelden durch echte Kulissen zu jagen - und zwar auf Wunsch jedes einzelnen Zuschauers durch genau die, die jener sehen möchte - ist beeindruckend.
Dank der deutschen Politik der Zukunftsvermeidung zugunsten höherer Regulierung des Alltagslebens mangelt es der von PPQ mit Hilfe von Milk und Arcade Fire erstellten Version aus Halle in ihrer Ursprungsform an den Street-View-Inhalten, mit denen andere Varianten des Videos etwa aus Tokio, New York und Paris dem langen Lauf des Kapuzenjungen zu sich selbst noch eine weitere Dimension hinzufügen können. Während er vorüberrennt, kann man die Zukunft förmlich vorbeispurten sehen, an den Fassaden, die aus Sicherheitsgründen kleine schwarze Fenster bleiben.
Dank der freundlichen Unterstützung hallescher Hobbyfilmer ist es jedoch gelungen, die wegen ihres Alters in Sachen Datenschutzverstoß ohnehin fragwürdigen Aufnahmen der gigantischen Baugrube am halleschen Hallmarkt mit aktuellen Kamerafahrten zu ergänzen. PPQ hat die Zukunft nach Halle geholt - Zusatznutzen dieser ersten deutschen Version, auf die nun niemand mehr länger warten muss: Das Original läuft am besten in Googles Chrome-Browser. Die PPQ-Variante aus dem Herzen Mitteldeutschlands auf allen Geräten, mit allen Browsern.


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