Neue Erfahrung (20) – Selbstreflexion

Neue Erfahrung (20) – Selbstreflexion

Wenn ich das ganze nochmal durchmachen würde, wäre das dann wirklich eine neue Erfahrung? Aber egal. Mit diesem schmerzhaften Hintergrund weiß ich nicht, wofür ich mich entscheiden soll. Dieser romantischen Idee hinterherhecheln oder doch der Vernunft nachgeben und es sein lassen.
Sag ich jetzt B? A hatte ich doch gesagt, also logische Reihenfolge, jetzt muss ich auch B sagen. Eine romantische Idee, Liebe hin oder her. Was wäre denn, wenn man jemanden aus seinem Leben herausholen würde, der es offensichtlich nicht schafft, sich daraus zu befreien? Oder geht der Gedanke zu weit. Mache ich mir was vor? Im Grunde wäre ich aber auch nicht hier, wenn es die Idee der wirtschaftlichen Flucht nicht geben würde. Kann ich es dann jemand anderen übel nehmen? Und bin ich nicht das Paradebeispiel von Inklusion und Integration? Ich glaube, Ausländer sind „Integration“. Bis auf meine Sprache bin ich vollstens integriert und ich bin mir spätestens, wenn ich nach Polen fahre, dessen bewusst, wie gut ich es in Deutschland habe. Das hat mir „das Leben gerettet“, wäre zu viel gesagt aber durch die Entscheidung meiner Eltern wurden mir ganz neue Möglichkeiten eröffnet. Ich wäre zur Schule gegangen in Polen, heißt es überhaupt „zur Schule gehen“ wenn der Lehrer zu einem kommt und man am Schreibtisch im Kinderzimmer unterrichtet wird, alleine? Aufgaben bekommt, während die Lehrerin mit der Mutter Kaffee trinkt? Und dabei keinen Kontakt zur gleichaltrigen Kindern, nur zu den Geschwistern, den Cousinen und Cousins.
Und ich hätte bestimmt kein Abitur gemacht. Jetzt könnte man meinen, ich übertreibe, aber das wurde mir auch von der Familie, die noch da ist bestätigt. Wenn man sich mein ganzes Leben anguckt, alleine wohnen zum Beispiele. Ich würde nie und nimmer in Polen in der Lage sein, alleine zu wohnen. Jetzt bin ich mir dessen bewusst, dass das Assistenzkonzept unter den Versorgungskonzepten der Maserati ist, aber in Polen gibt es gar keine Pflegekonzepte. Warum den auch, die Familie versorgt. Nicht nur, dass es keine außerfamiliäre Versorgung gibt, wird das auch noch akzeptiert, was bedeutet, dass es noch viel länger dauern wird, bis etwas aufgebaut werden kann. Wie oft höre ich auf Familienfeiern, dass wenn ich in Polen leben würde, dann bräuchte ich keine Assistentin, dann würde mir die Familie helfen. Rückwirkend weiß ich nicht welcher Gedanke zuerst kommt. „Ich bin sprachlos“ oder „Mein Gott bin ich froh, dass meine Eltern das nicht hören“, weil im Grunde schwingt hier der Vorwurf mir, dass sie ihr Kind nicht unterstützen würden. Dabei ist es gar nicht so, dass ich von meiner Familie unterstützt werden möchte. Das hatte ich schon mal, und es ist zu belastend für alle. Und ich bin eine große Befürworterin, Pflege aus der Familie outzusourcen, ohne sämtlichen emotionalen Druck für den einen oder den anderen.

Und das ist nur mein Wohnkonzept. Da ist noch meine Familie, meine eigene Familie. Ich hatte bestimmt schon mal erwähnt, dass mein Ex ein Arsch ist. Und er ist zurecht mein Ex. Aber bei genauer Betrachtung: ohne diesen … hätte ich auch keine Familie. Ich hätte kein Kind. Wenn ich eines weiß, dann das, dass ich sicher kein Kind hätte. Wie hätte ich es denn auch haben sollen? Ich hoffe ich gehe nicht zu weit, wenn ich sage dass ich Sex hatte. Ganz oft sogar. Das wäre nicht möglich gewesen, wenn ich noch bei den Eltern gelebt hätte. Die Idee, dass Behinderte überhaupt eine Sexualität haben ist auch hier nur bedingt akzeptiert. Es kommt immer darauf an, mit wem man redet. Hatte ich bestimmt schon mal geschrieben, dass ich gefragt worden bin, ob mein Sohn adoptiert ist. Ganz oft werde ich auch gefragt, ob er denn normal sei. Normal. Was ist normal? Ich hab’s ignoriert und meinte, „Ja, klar.“ und ich kann mir an diesen Stellen nicht verkneifen, dass er auf ein Sportgymnasium geht, im Sinne von physio und psycho voll intakt. Die Realität sieht da suboptimaler aus. Mit seinen präpubertären Verhaltensauffälligkeiten, die mich verstören, macht mich dieses Kind wahnsinnig aber wie gesagt, ich gehe davon aus, dass der Begriff „normal“ zu verwenden ist.

Welche Bereiche gibt es noch die vielleicht anders wären? Die Arbeit. Das ist unglaublich. Ich gehe arbeiten. Ich weiß, viele andere auch, sehr viele sogar, wenn nicht sogar die meisten. Aber manchmal wundert man sich schon, vor allem die älteren Semester fragen sich, warum ich nicht so eine Art Behindertenrente kriege. Aber ist es wirklich erstrebenswert? Wenn man doch die Möglichkeit hat, arbeiten zu gehen. Und Bürojobs sind ja nicht dafür bekannt, dass man sehr viel physische Anstrengung aushalten muss. Das kann ich doch gut machen, warum sollte ich es dann nicht tun? Nur zuhause sitzen, das wäre doch langweilig. Jeder Tag wäre wie der andere und mit weniger Einkommen hätte man auch viel weniger Möglichkeiten. Ich denke das ist auch so eine Sache, die ist nur erstrebenswert, wenn man es nicht schon hat. Ich gebe zu es gibt einzelne Arbeitstage wo ich mir denke „Rente wäre vielleicht doch eine Alternative.“ aber auch hier reihe ich mich mit meiner Meinung in den Kreis der Arbeitnehmer ein. Integriere mich sozusagen.

Und apropos „eine Art Behindertenrente“: mein Cousin, der in Polen lebt, kriegt das. Er hat MS. Weil er das nicht schon immer hatte, hatte er knapp genug gearbeitet, um eine kleine Rente zu kriegen. Er wohnt noch bei seinen Eltern, seine Versorgung ist so, dass ich das nur aus zweiter Hand höre. Es ist wohl so, dass er den ganzen alleine Tag zuhause ist. Wenn er einen schlachten Tag hat und sich kaum bewegen kann, dann schafft er es nicht einmal mehr alleine zur Toilette. Wenn er dann mal hinfällt, muss er bei seinen Eltern auf der Arbeit anrufen und die können dann entweder sofort kommen oder erst nach Stunden. Selbst traue ich mich nicht ihn darauf anzusprechen. Er ist ehrlich gesagt auch sehr anstrengend. Ich kann jetzt nicht sagen, ob er schon immer so anstrengend war, jetzt ist er es auf jeden Fall. Er imitiert eine Frohnatur. Völlig überladen, völlig überzogen, völlig gekünstelt, völlig unecht, völlig affektiert und all das verkrampft. All dies so sehr, dass ich es nicht glauben kann, aber wenn ihm das wichtig scheint, sich so verstellen zu müssen, dann darf ich ihm doch nicht das Gegenteil sagen. Ich kenne seine Situation dadurch nicht genau, ich kann es mir nicht vorstellen und wenn es ihm hilft, dann soll es so bleiben. Denn Vieles hat er nicht mehr und er ist der Einzige neben mir, der nicht von der Familie gefragt wird, wann es bei ihm soweit wäre. Letztens war sein elektrischer Rollstuhl kaputt, so hatte man mir erzählt. Und die Familie sammelte für die Reparatur dieses Rollstuhls. Und was für ein Rollstuhl das ist, ist unglaublich. Ein Rollstuhl, den ich 1995 bekam, der eine primitive Ausstattung hatte, sah schon damals besser aus als der, den er jetzt hat (ich habe jetzt einen Permobil, da ist schon alles was nur fahren kann, primitiv). Es hat keiner von mir verlangt, dass ich, da ich ja noch aufstocke und Hartz IV bekomme, mich daran beteilige. Aber das wäre so falsch gewesen und vor allem war es ein komisches Gefühl, als ob das mein Problem wäre. Hört sich das jetzt komisch an? Und ich fand es so unmöglich, dass es auch Gegenstimmen für diese Sammelaktion gab, da er ja so nervig ist. Alleine der Taktik zuliebe habe ich das Doppelte gegeben, weil wenn ich was gebe, obwohl ich nur Hartz IV bekomme, wäre es ja noch herzloser gewesen, selbst nichts zu geben, wenn man gar nicht mal so schlecht verdient. Und wenn ich das wieder auf meine eigene Situation beziehe, wenn bei mir was kaputt ist, nerve ich die AOK, gefühlt alle von denen und dann kriege ich schon was ich will und füttere meinen Blog dabei. Und was bleibt sind höchstens die Telefonkosten. Und hatte ich nicht mal geschrieben, dass ein Rollstuhl Lebensqualität bedeutet?

Also zusammenfassend: es ist ein ganz anderes Leben was ich hier führe. Was mir hier alles ermöglicht wird. Das hätte ich woanders gar nicht und dabei ist speziell Polen in der EU, das heißt man könnte davon ausgehen, dass es mir vergleichsweise in Polen besser gehen müsste als in anderen Ländern. Ich zahle durch meine Arbeit Steuern, wie alle anderen auch. Ich lebe in meiner eigenen Wohnung, wie alle anderen auch. Ich habe eine Familie, wie alle anderen auch. Ich kann mich frei bewegen, wie alle anderen auch. Ich bin ein Teil der Gesellschaft und ich bin es gern. Und diese Gesellschaft ist noch nicht perfekt, aber man arbeitet daran. Und alleine, dass den Behinderten hier ermöglicht wird, für ihre Rechte zu kämpfen, dass man ein offenes Ohr für ihr Anliegen hat, dass man nicht mehr als Belastung und Kostenfaktor empfunden wird ist wichtig. Dass man erst genommen wird, als Teil der Gesellschaft empfunden wird, das ist unerlässlich. Und wenn das für mich als Spätaussiedlerin und Frau mit Behinderung gilt, warum sollte das nicht auch für Flüchtlinge gelten?

(Foto: Walter Reich / pixelio.de)

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