Firnissimo! Skitouren in der Venediger-Gruppe

Großer Geiger, Dreiherrenspitze, Simonyspitze. Rund um die Essener-Rostocker-Hütte kann man ganz gemütlich auf die Jagd nach Dreitausendern gehen.

Bilder: David Wallmann

Frühling. Er ist gleichermaßen Freund und Feind des Skitourengehers. Freund, weil er Bergflanken mit Firn überzieht, der abgöttisch gut zu fahren geht. Feind, weil er beharrlich an der Schneedecke nagt und sie nach und nach auffrisst. Ein unabwendbarer Prozess.

Zumindest eine zeitlang ist es uns möglich, dem Lauf der Jahreszeiten zu trotzen; den Winter hinauszuzögern. Wir weichen aus. Nach oben. Schleppen unsere Skiausrüstung wie Besessene Berge hinauf – getrieben von dem Gedanken an die perfekte Frühjahrsskitour.

Auch David Wallmann und ich zählen zu diesen Getriebenen. Die Jagd nach ein paar schönen Dreitausendern verschlägt uns ins Virgental in Osttirol. Wir beschließen, unser Base-Camp für zwei Tage auf der Essener- und Rostocker-Hütte aufzuschlagen.

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Base-Camp Essener- und Rostocker-Hütte

Die Hütte erreichen wir von Ströden aus – dem hintersten Winkel des Virgentals. Wir packen alles unserer Meinung nach Essenzielle in den Rucksack. Steigeisen bleiben im Auto. Seil? Ja, pack mal ein. Die Skischuhe schnallen wir auf die Skier und das Komplettpaket wiederum auf den Rucksack.

Für den Aufstieg ziehen wir Trailrunning-Schuhe an. Von den 800 Höhenmetern bis zur Hütte liegt auf 600 kein Schnee mehr. Heißt: eine Stunde Ski tragen.

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Rings um uns sprudelt Schmelzwasser aus sämtlichen Poren des Bodens. Krokusse streuen weiße und violette Punkte in das karge Gras. Die Trichter fest verschlossen, als trauten sie der trügerischen Wärme noch nicht.

Nach einer Stunde Fußmarsch erreichen wir ein Plateau. Ein Bächlein bahnt sich seinen Weg durch die schon dickere Schneedecke. Wir überqueren es über einen Steg. Hoch über dem Tal steht die Hütte auf den Ausläufern einer Gletschermoräne. Wir sind fast da.

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David und ich tauschen Trailrunners gegen Skischuhe und steigen die letzten Höhenmeter mit Skiern auf.

Base-Camp erreicht. Frühling hinter uns gelassen; zurück im Winter. Wir melden uns bei Hüttenwirt Werner an. Dieser staunt, dass ich mich nach zwei Wochen schon wieder hier herauf gequält habe. Es wird sich auszahlen. Das erste Highlight wartet heute noch auf uns.

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Großer Geiger – Finale mit Drei-Zinnen-Blick

Die Uhr zeigt kurz nach 10 Uhr vormittags. Am Himmel keine Wolke. Wirklich keine einzige. Rund um die Hütte: Prachtverhältnisse. Kein Gipfel, der heute nicht möglich wäre. Na dann, gleich Geiger. Gehe gut, meint Werner. Wir sollen zur Sicherheit ein Seil mitnehmen.

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Die Aufstiegsroute führt von der Hütte weg in nördliche Richtung flach ansteigend bis ans Ende des Tales. Wir durchkreuzen eine Wanne aus Fels und Eis. Werk des Gletschers, der sich mittlerweile in den Steilhang zurückgezogen hat, auf den wir zusteuern. Links und rechts türmen sich haushohe Seitenmoränen. Sogar einige Eisfälle haben es geschafft, bis jetzt erstarrt zu bleiben.

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Wir erreichen das Ende des Tales und können endlich wieder Höhenmeter machen. David und ich folgen dem Verlauf des Gletschers und halten in einer weiten Rechtskurve auf den Großen Geiger zu. Unsere Spitzkehren legen wir am linken Rand des Gletschers an. Dieser scheint relativ frei von Spalten zu sein. Zumindest erkennen wir keine und fühlen uns deswegen weiterhin ohne Seil sicher.

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Mehr als mit der Angst vor Gletscherspalten, haben wir mit der Mittagshitze zu kämpfen. Die Sonne knallt mit aller Kraft, die ihr im Frühjahr zur Verfügung steht, auf den Gletscher. Unsere Köpfe glühen, die Augen stechen. Und David kann den Sonnenbrand auf seinen Waden nicht mehr abstreiten.

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Wir überholen zwei kleinere Gruppen. Wo wir den herkämen, fragt einer. Von unten. Also von der Hütte? Nein von ganz unten, entgegne ich. Wann wir denn gestartet seien? Kurz vor 9. Drei paar Augen starren uns ungläubig an. Und jetzt schon da? Heute gemütlich, schmunzelt David und geht weiter. Ich haste hinterher.

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Unterhalb des Gipfelaufbaus flacht der Gletscher ab. Wir erreichen ein Plateau, von dem der Gipfelgrat nach oben zieht. Von hier blicken wir tief in den Salzburger Pinzgau hinein. In der Gletscherwelt rund um den Großvenediger können wir die Kürsingerhütte erkennen. Wir sind im Herzen der Hohen Tauern angekommen.

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Die Gipfelflanke scheint gut fahrbar. Darum zurren wir die Skier am Rucksack fest und nehmen sie mit den Grat hinauf.

Der Weg ist angespurt, der Schnee weich, das Stück also gut ohne Steigeisen machbar. Erst spät taucht das Gipfelkreuz hinter der Kuppe auf. Es ist nur mannshoch – oder in unserem Fall davidhoch.

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Wir sind alleine. Nur wir und ein nicht enden wollendes Gebirgspanorama. Gegenüber der Großvenediger, etwas dahinter der Großglockner. Wow, man kann sogar die Drei Zinnen sehen!

Schnell noch die Sozialen Medien füttern. Ein Boomerang für die Instagram-Story und dann: Abfahrt. Der Hunger treibt uns zurück zur Hütte. Wir stechen in den Gipfelhang, der sich steiler präsentiert, als wir es erwartet hätten.

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Nicht ungefährlich um die Mittagszeit – die Schneedecke schon stark aufgeweicht. Wir fahren einzeln und vorsichtig. Unterhalb des Gipfelhanges folgen wir der Aufstiegsspur zurück. Wir lassen es ordentlich laufen, bevor uns der weiche Schnee das Gletschertal hinaus unsanft stoppt.

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Zum Sonnenuntergang auf das Rostocker Eck

Den Nachmittag verbringen wir auf Werners Terrasse. Essen Suppe und Kuchen, frischen unseren Sonnenbrand auf. David spielt mit seiner Drohne und verärgert die Hüttengäste. Ich tue so, als würde ich ihn nicht kennen. Und find’s witzig, wie sich die Preißen aufregen.

Bis 16 Uhr kann ich David ruhig halten. Dann muss er wieder auf Ski. 2.000 Höhenmeter am Vormittag waren nicht genug. Gut, gehen wir noch aufs Rostocker Eck. Sind nur 500 Höhenmeter und liegt direkt an der Hütte. Ist ein cooler Gipfel. Ich war ja schon mal ungewollt oben.

Firnissimo! Skitouren in der Venediger-Gruppe (c) David Wallmann

David packt die Drohne ein und eine Stunde später oben wieder aus. Die Stimmung ist genial. Ein super Aussichtsberg, um unsere Route für morgen auszuchecken und einen Blick auf die Tour von heute zu werfen.

Am kommenden Tag wollen wir auf die Dreiherrenspitze und die Westliche Simonyspitze.

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Perfekt erwischt: Dreiherrenspitze und Simonyspitze

Zu früh knarren Türen und Böden. Jeder will früh los – nur ich nicht. Als ich mich um sieben Uhr zum Frühstück schleppe, bin ich die letzte, die sich ihren Kaffee zapft. Selbstgemachtes Vollkornkornbrot gibt der Kraft Kraft für den Tag. Dann starten David und ich Richtung Reggentörl. Dieses Mal kenne ich den Weg.

Wir fahren von der Hütte ein kleines Stück ab und folgen den Wegweisern zum Simonysee. Ab dort steigen wir immer steiler und mit immer stärker werdendem Gegenwind zum Reggentörl auf. Die markante Scharte ist nicht zu übersehen.

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Das Törl liegt knapp über 3.000 Meter. Ich würde es fast als Wunderwerk der Natur bezeichnen. Links und rechts ragen die Felswände der Malhamspitzen und der Grubachspitze empor. Was dazwischen bleibt ist ein schmaler Durchlass. Die Eintrittspforte in eine Welt aus ewigem Eis. Beim Anblick des Gletschers bleibt David der Mund offen stehen. Wow. Der. Ist. Fett.

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Hielte man sich nach dem Reggentörl gleich rechts, gelangte man direkt zur Westlichen Simonyspitze. Wir wollen heute eine schöne Rundtour in die Tauern zeichnen. Darum fahren wir geradeaus entlang der Hochtirol-Route in die Senke unterhalb des Gletschers ab und steigen in die Südflanke der Dreiherrenspitze ein.

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Ich komme nur schleppend voran. Es ist zu heiß; der Schnee zu weich. Ständig rutsche ich ab und verschenke viel Kraft. Die Flanke zieht sich ewig. Hinter jeder Kuppe geht es nochmals bergauf. Dann versperrt uns eine enorme Wechte den Blick auf den Weg, der noch vor uns liegt. Ich erkenne nur, dass Nebelschwaden den Gipfel umhüllen. Je dichter der Nebel wird, umso mehr schwindet unsere Zuversicht, zur Simonyspitze hinüberqueren zu können. Ohne Sicht am Gletscher – eine aussichtslose Situation.

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Ich bleibe vorsichtig optimistisch und konzentriere mich darauf, die Wechte zu überwinden. Mit zitternden Knien drücke ich die Kanten meiner Skier in den sicher 50° steilen Schneeaufbau. Den letzten Schritt setzte ich hoch, vertraue einfach darauf, dass die Felle halten und wuchte mich über den Firngrat. Erleichtert finden wir uns auf einem Plateau wieder. Nebel umspielt uns. Ein heftiger Windstoß und der Gipfel liegt frei vor uns. Nur ein steiler Grat trennt uns vom höchsten Punkt der Dreiherrenspitze.

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Enthusiastisch schnallen wir die Skier ab. Erneut müssen wir tragen. Hier wären Steigeisen garantiert nicht verkehrt gewesen. Wir schaffen es auch so. Mit etwas mehr Angst als nötig erreiche ich den Gipfel.

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Ich würde sagen, das ist einer der coolsten Berge, auf denen ich je gestanden habe. Total ausgesetzt stehen wir auf seinem schroffen Gipfelaufbau, direkt auf der Grenze zwischen Italien, Tirol und Salzburg. Zu drei Seiten fallen die Felswände fast senkrecht ab. Dazu dieses ungewöhnliche Kreuz und der Nebel, der immer wieder Tiefblicke auf den Gletscher freigibt.

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Wieder stehen wir alleine am Gipfel. An der Simonyspitze wuseln einzelne Bergsteiger hinauf. Und weil wir dort drüben auch noch etwas vorhaben, packen wir zusammen und fahren bis zum Plateau oberhalb der Wechte ab. Wir müssen eine Entscheidung treffen.

Über den Gletscher zur Simonyspitze. Ja, nein, weiß nicht?

Unsicher, wohin uns unser Weg führen wird, stehen wir am Rand der Wechte und versuchten, eine logische Linie durch das Labyrinth aus Gletscherbrüchen und -spalten zu finden. Wir können keine Spuren ausmachen. Das gibt’s doch nicht. David merkt an, dass er nicht unbedingt der erste sein will, der seit langer Zeit die Querung macht. Ich auch nicht. Ich will aber auch nicht bis in die Senke zurück abfahren und den Aufstieg von Neuem beginnen.

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Wir beschließen, bis zu jener Stelle abzufahren, von der aus man auf den Gletscher gelangt. Als wir abschwingen: Erleichterung! Durch das flache Licht sind endlich Spuren erkennbar. Nehmen wir? Nehmen wir!

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Was die nächste Stunde folgt ist Tourengenuss der Extraklasse. Die Weiten des Gletschers machen uns sprachlos. Mich am Ende auch die Anstrengung. Die letzten Höhenmeter zur Westlichen Simonyspitze hängen sich ordentlich an. Ich beiße durch und werde belohnt. Ein weiterer Gipfel, den nur wir uns teilen. Ein weiterer Gipfel mit Venediger-Blick und Dolomiten-Panorama.

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Um unsere Runde komplett zu machen, wollen wir südseitig über den steilen Simonygletscher zur Hütte zurückfahren.

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Die Abfahrt birgt auf jeden Fall einige Risiken, bei guter Spurwahl kann man die Gletscherabbrüche aber gut umfahren. Am Simonysee kreuzen wir unsere Aufstiegsspur. Der Kreis schließt sich. Am Ende blicken wir auf zwei geniale Tage, vier einsame Gipfelsiege und 4.500 zurückgelegte Höhenmeter zurück. Und wieder ist klar, dass das hier das neue Tourengebiet meines Herzens ist.

Tourdaten

Tag 1: 2.500 Höhenmeter

Tag 2: 2.000 Höhenmeter


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