Ebrahim Nabavi: Die Augen und Ohren der Grünen Bewegung

06.07.2010Artikel zu Iran Politik & Gesellschaft erstellt von Ebrahim Nabavi, Übersetzung von Julia

Mehr als ein Jahr ist seit dem Beginn der Grünen Bewegung vergangen. Heute möchte ich Ihnen Dinge über die Grüne Bewegung verraten, die Ihnen vielleicht weniger bekannt sind.

Ebrahim Nabavi: Die Augen und Ohren der Grünen Bewegung

Veröffentlicht bei Rooz Online am 3. Juli 2010
Quelle (Englisch): http://www.roozonline.com/english/opinion/opinion-article/article/2010/july/03//the-eyes-and-ears-of-the-green-movement.html

Übersetzt von Julia

Erstens: Die Grüne Bewegung ist keine religiöse Bewegung, aber sie kann auch nicht als säkulare Bewegung bezeichnet werden, eher als nichtreligiöse Bewegung mit religiösen Führern. Dies ist einer der Wege, wie Demokratie in der islamischen Welt wächst. Die Grüne Bewegung findet in einer religiösen Gesellschaft statt – nicht etwa, weil wir die Religion lieben, nein – wir mögen eine religiöse Gesellschaft eigentlich überhaupt nicht – sondern weil wir in der Realität leben, und wer auch immer Ihnen erzählen mag, dass die Zukunft Irans eine weltliche Gesellschaft sein wird: Nehmen Sie solche Äußerungen in den nächsten 50 Jahren nicht ernst. Selbst in 50 Jahren wird nur Henry Kissinger in der Lage sein vorherzusagen, was Morgen sein wird.

Zweitens: Die Grüne Bewegung hat eine ausgeprägte Führung. Mir Hossein Moussavi ist der Führer dieser Bewegung, aber er und andere Führer der Bewegung wie Khatami und Karroubi haben niemals den Anspruch erhoben, Führer der Bewegung zu sein, denn die Führer der Bewegung haben eine absolut wechselseitige Beziehung mit ihren Unterstützern. Fünfzig Prozent des Inhalts von Mir Hossein Moussavis Gedanken, Forderungen, Sprache und Wortwahl hat sich im Verlauf des letzten Jahres verändert – nicht, weil er nicht strukturiert denken kann, sondern weil er Interaktion und Dialog mit den Unterstützern und insbesondere mit der mittleren Führungsschicht der Bewegung aufrecht erhalten hat.

Drittens: Die Grüne Bewegung ist friedlich. Im letzten Jahr wurden tausende Iraner eingesperrt, verletzt, verbannt, gefoltert, mehr als 100 Menschen wurden auf den Straßen getötet – all das geschah, weil das Regime Angst vor einer Ausbreitung der Bewegung hat und mit großer Gewalt gegen die Menschen vorgeht. Am 12. Juni dieses Jahres wollten die Leute anlässlich des Jahrestages des Putsches auf die Straße gehen, aber trotz Artikel 27 der Verfassung hat die Regierung keine Genehmigung erteilt. Das Ziel der Grünen Bewegung ist es nicht, eine zehntausend Köpfe starke Menge auf die Straße zu bringen und damit Dutzende von Opfern und hunderte von Gefangenen hervorzubringen. Wenn drei Millionen Menschen auf die Straße gehen, ist nicht einmal eine große Armee in der Lage, sie zu kontrollieren. Wenn aber 5000 Menschen auf die Straße gehen, können sie von 500 Menschen kontrolliert werden. [Anm. d. Übers.: Nabavi möchte damit m. E. sagen, dass die Regierung gewusst hat, dass im Falle einer Demonstrationserlaubnis so viele Menschen auf die Straße gekommen wären, dass eine Kontrolle unmöglich gewesen wäre. Wäre sich das Regime seiner stabilen Position tatsächlich so sicher, wie es nach außen vorgibt, hätte es von einer genehmigten Demonstration nichts zu befürchten gehabt].

Viertens: Das Regime sieht sich gegenwärtig einer Vielzahl von Konflikten ausgesetzt. Nach dem Jahrestag von Ayatollah Khomeinis Tod, der in eine Auseinandersetzung zwischen Khomeinis Enkel und Ahmadinejad gipfelte, waren im regierungstreuen Lager dramatische Verluste zu verzeichnen. Eine große Zahl Parlamentarier wird zum Volk zurückkehren, und eine beträchtliche Anzahl Diplomaten wird wahrscheinlich nicht in den Iran zurückkehren. Jetzt gerade verliert das Regime 2 bis 5 der wichtigsten Berater des Führers, während andererseits die Grüne Bewegung zu größerem Zusammenhalt findet und sich von einem chaotischen Haufen zu einer profilierten Organisation wandelt. Seit einem Monat ist die Atmosphäre im Iran für Aktivitäten offener geworden, vor allem in den Städten: Es gibt eine Chance für die Grüne Bewegung, Informationen zu verbreiten, insbesondere mittels Graffiti an den Wänden und der Verteilung von Flugblättern. All dies ist möglich, weil es unter den Konservativen selbst intensive Auseinandersetzungen gibt. Wir beten, dass ihre Streitigkeiten weitergehen.

Fünftens: All dies habe ich gesagt, um die Diskussion auf die Medien zu lenken. Im Iran sind sieben Fernsehkanäle, dutzende Radiosender, hunderte von Zeitungen und tausende von Webseiten unter der Aufsicht der Regierung, der Konservativen, des Führers und Ahmadinejads damit beschäftigt, pro Minute dutzende Lügen zu verbreiten. Dazu kommt, dass persischsprachige Fernsehsender in Los Angeles das Denken der Menschen mit der Ausstrahlung von Wiederholungen alter Filme bremsen.
Andererseits filtert die Regierung das Internet, bildet eine Internet Cyber Army und verhindert mit Störsignalen, dass Fernsehbilder und Radiowellen die iranische Bevölkerung erreichen, während unabhängige Zeitungen längst geschlossen sind.
Unser Hauptanliegen ist, dass es einen Sender geben muss, der den Atem der Freiheit ins Land bläst. Schon länger reden die Amerikaner davon, im Iran eine zensurfreie Internetumgebung schaffen zu wollen. Herr McCain gibt sich diesbezüglich große Mühe, und jedes Mal, wenn er das Thema anspricht, werden ein paar weitere iranische Journalisten verhaftet, und natürlich geschieht nichts nennenswertes.

Sechstens: Ein großes Hindernis bei der Errichtung unabhängiger Medien im Ausland ist, dass wir von außerhalb Irans kein Geld bekommen können. Wenn man hier im Iran ausländisches Geld verwendet, ist es so, als wenn man eine Gazelle auf ein freies Feld mit tausenden von Jägern entlässt, von denen einige die Gazelle sogar mit Panzern jagen. Finanzielle Hilfe aus Europa oder den Vereinigten Staaten zu empfangen bedeutet, unseren Kollegen im Iran eine Kugel in den Kopf zu jagen.
Meine persönliche bittere Erfahrung mit BBC, VOA [Voice of America], Radio Zamaaneh und Deutsche Welle zeigen, dass alle persischsprachigen Medien Rücksicht auf ihre Regierungen nehmen. Manchmal ist der Schaden, den ein Fernsehsender wie BBC anrichtet, tausend Mal größer als sein Nutzen. Sie haben uns 200 unserer besten Autoren, die hunderte von Lesern hatten, weggenommen und sie zu Mitarbeitern einer Organisation gemacht, die seit vielen Jahren von den Iranern, die die Engländer ["the English"] für alles Schlimme, was im Iran passiert, verantwortlich machen, misstrauisch beäugt wird. Außerdem führt die andauernde Einmischung der Europäer in die Angelegenheiten von Medien, die mit europäischem Geld betrieben werden, praktisch zur Zerstörung dieser Medien. Ein Beispiel dafür ist Radio Zamaaneh, das zusammengebrochen ist. Nach monatelangen Anstrengungen ist Euronews noch immer nicht weitergekommen, und es sieht aus, als müssten sie noch Persisch-Übersetzer für ihre Mitarbeiter finden [Anm. d. Übers.: Euronews hatte im vergangenen Sommer die Einrichtung einer persischsprachigen Nachrichtensendung angekündigt]

Siebtens: Leider beschädigen viele westliche Regierungen die derzeitige Demokratiebewegung, anstatt ihr zu helfen, denn sie greifen auf iranische Berater aus vergangenen Jahrhunderten zurück. Vor drei oder vier Jahren hatten wir Probleme, weil wir 1000 Euro von Frankreich nach Belgien transferierten, denn wir arbeiteten für eine oppositionelle Webseite. Gleichzeitig wurden in Europa Millionen von Euro aus finanziellen Mitteln des iranischen Regimes und der Revolutionsgarden für verschiedene Zwecke eingesetzt, die gegen rechtswirksame Verträge der UN verstießen.
Jahrelang haben wir erklärt, dass wir keine Terroristen und sogar gegen den Terrorismus sind, aber der Mitarbeiter der Bank hatte sich auf das Wort „Iran“ eingschossen, weshalb wir dann das Wort „Iran“ aus dem Namen unserer Firma strichen. Während wir hier sprechen werden in Kanada und den Vereinigten Staaten tausende von Dollars im Namen der „Hilfe für iranische Journalisten“ an Personen verteilt, die nicht nur nichts für die Freiheitsbewegung im Iran tun, sondern vielmehr juristische Dossiers gegen Journalisten im Land [im Iran] verfassen. Einige rechtsgerichtete Zeitungen im Iran werden von Geld unterstützt, dass Sie zur Verfügung stellen.

Achtens: Der iranische Staat verhindert jede politische Aktivität mit drei Mitteln: Zensur, Zerstörung des Vertrauens und Behinderung bei der Gründung von Organisationen. Dies sind die drei wichtigsten Maßnahmen des Geheimdienstministeriums. Aber unsere riesige Chance ist das Internet. In der Praxis, vor allem aber unter den richtigen Bedingungen, kompensiert das Internet diese drei Einschränkungen bei der Information und dient uns als Organisation; es überwindet Zensur und ebnet den Weg für gegenseitiges Vertrauen. Aber die Gefahr des Internet und unser großes Problem sind die eindringenden Geheimdienstelemente, die auf unsere Daten zugreifen und von unseren Plänen erfahren.
Leichter ist es mit sozialen Netzwerken, schwieriger ist es mit E-Mail und privaten Webseiten. Einige der wirksamsten Waffen, die der Grünen Bewegung zur Verfügung stehen, sind die Webseite Balatarin sowie Facebook und Twitter. Obwohl Balatarin auch von radikalen Regierungsanhängern und Befürwortern eines Militärschlags gegen den Iran genutzt wurde, war es eine effektive Quelle für die schnelle Verbreitung von Informationen und Nachrichten im ganzen Land. Im letzten Jahr haben die Webseiten Balatarin, Rooz Online, Jaras sowie Facebook als Nachrichtenseiten fungiert und konnten den Mangel an Organisation kompensieren und die Atmosphäre der Zensur durchbrechen. Wenn wir auf die Straße gingen, hatten wir uns vorher schon auf Facebook ausgetauscht.

Neuntens: Trotz aller Probleme, die wir zur Zeit haben, wird unsere Arbeit im Iran aufmerksam verfolgt, weil wir wandelbare Medien verwenden. Viele unserer Fernseh- und Internetbotschaften werden per Flugblatt oder Video-CD an diejenigen weitergegeben, die keinen Internetzugang haben. Nach Ahmadinejads Putsch vom 12. Juni haben wir versucht, mit den Medien zu sprechen, die ihr Ohr nah am Volk hatten, und darum sind wir heute in gewissem Maße erfolgreich.

Zehntens: Es könnte helfen, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Überzeugungen einer beträchtlichen Anzahl unserer Freunde im Westen auf den Überzeugungen beruhen, die hinter der Propaganda der Islamischen Republik stehen. Im Gegensatz zu dem, was die Propaganda des iranischen Regimes behauptet, stimmt es nicht, dass alle Landbewohner Ahmadinejad unterstützen – die Hälfte von ihnen tut es, und unsere ländlichen Gebiete machen weniger als 20 Prozent der iranischen Bevölkerung aus.
Entgegen vorherrschender Meinungen ist die iranische Freiheitsbewegung keine Bewegung der Mittelklasse, sondern eine sehr weitverzweigte Bewegung. Die meisten der Opfer und Gefangenen der Bewegung stammen aus armen Familien, und die meisten Armeebefehlshaber sind Millionäre und Milliardäre.
Hauptsächlich wegen des derzeitigen Regimes im Land werden die meisten Gebildeten von anderen als relativ arm angesehen, und die Reichen des Landes gehören zur Klasse der Herrschenden, der Militärs und der Geistlichen.
Entgegen vorherrschender Propaganda sind die wichtigsten Gruppen, die das Regime bekämpfen und sich für eine Trennung von Religion und Politik einsetzen, gemäßigte religiöse und islamo-demokratische Gruppen, wohingegen ein Teil der Verbindungen von Regimeanhängern zum Staat durch ihre Abhängigkeit vom Geld der Regierung bedingt ist und sie keine religiösen Neigungen haben.

Elftens: Auf der Grundlage des Gesagten möchten wir die Europäer, die glauben, dass sie uns helfen wollen, bitten: „Denkt mehr an euch“. Wenn die Bombe, die unser Leben als Iraner bedroht, explodiert, wird sie den gesamten Planeten bedrohen.
Das größte Problem für Iraner heute ist Information. Wir müssen präzise Nachrichten innerhalb Irans reflektieren. Damit wären wir in der Lage, diese Nachrichten auch an den Rest der Welt weiterzugeben. Wir wollen kein Geld von euch – aber versucht, es möglich zu machen, dass wir uns von der Tyrannei befreien. Euch als Europäer bitten wir darum, einen Fernsehsender haben zu dürfen. Wir wünschen uns, dass ihr etwas schneller auf uns eingeht. Wir wollen nicht, dass ihr ein schlechtes Gewissen habt, weil ihr erst fragt „Was braucht ihr?“, um uns dann in einer Wolke der Ungewissheit sitzen zu lassen. Das Wichtigste, was die Freiheitsbewegung im Iran braucht, ist Aufmerksamkeit, insbesondere ein Fernsehsender, um Nachrichten präzise und vollständig verbreiten zu können.

Ihr habt im zweiten Weltkrieg den bitteren Geschmack des Faschismus erfahren. Ihr wisst, was Gefahr ist. Wir sind in derselben Lage wie ihr. Im Iran ist das Lebensgefühl lebendiger, alles ist dynamischer, und Millionen von Menschen wollen sich des Satans entledigen. Das allein – sich des Satans entledigen – wird genügen. Dann werden sie selbst wählen, ob sie in die Hölle oder in den Himmel wollen.

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