Die vier Lager in der Gesellschaft der Islamischen Republik Iran

14.11.2009Artikel zu Iran Hintergrund erstellt von Helmut N. Gabel

Eine Analyse der Hauptinteressen in einem Regime, dessen System kurz vor dem Kollaps steht

Die vier Lager in der Gesellschaft der Islamischen Republik Iran

Wer macht im Iran die zukünftige Politik?

Ali Khamenei ist ein alter Mann. Er ist Oberster Führer eines religiös-politischen Systems und versteht sich als Stellvertreter Gottes auf Erden. Sein Anspruch auf die Macht im Staat ist absolut. Das System, das ihn legitimiert, den Iran zu lenken, heißt Velayat-e-faghi. Kommentatoren sind sich nicht ganz einig, ob er nun noch alle Fäden in der Hand hat oder ob es nur noch eine Frage der Zeit ist, bist er entweder ablebt oder abgesetzt wird. Manche halten es nicht für relevant, ob er noch lebt, sie geben dem System nur noch einige Monate. Diese Woche war der Oberste Führer sehr unzufrieden mit seinem Informationsminister. Keiner kann dem Hirten sagen, welche Person oder Organisation genau hinter den anhaltenden Protesten seiner unwilligen Schafe steckt. Jetzt lässt er eine Parallel-Geheimdienstorganisation aufbauen, um der Sache endlich ein Ende zu bereiten, denn, wie kann man gegen einen Feind siegen, den man nicht sieht? Ayatollah Khamenei hat angewiesen, dass die ihm ergebenen Revolutionsgarden und die Unterorganisation der Bassidschi einen eigenen alles durchdringenden Geheimdienst aufbauen, um genau zu wissen, wer sich verschwören will und wer das System zu stürzen plant. Ein letztes Aufbäumen?
Hinter ihm stellen sich mehrere Fraktionen auf, die sich aber in bestimmten Nuancen voneinander unterscheiden. Genau diese Nuancen führen zu Uneinigkeit, die die aktuelle Schwäche des Obersten Führers hervorbringt und die Menschen ermutigt ihre Proteste auf der Straße gegen die Verletzung grundlegender Menschenrechte von Seiten des Regimes weiterhin fortzusetzen. Bei den letzten großen Demonstrationen am 4.November haben Demonstranten erstmals Plakate mit dem Konterfei von Khamenei von den Wänden gerissen und sein Portrait verbrannt. Ein unmissverständlicher symbolischer Akt.
Gleichgewicht der Kräfte
Bevor wir uns die vier Lager in der aktuellen Gesellschaft der Islamischen Republik vor Augen führen, machen wir uns kurz klar, durch welche Institutionen dieses System getragen wird und wer die Protagonisten sind. Als Ayatollah Khomeini, der Gründer der Islamischen Republik, aus seinem Exil in Frankreich in den Iran zurückkehrte, hatte er die Übersetzung der belgischen Verfassung in der Tasche als Grundlage für eine Staatsform nach der gestürzten Monarchie. 8 Monate später fügte er mit der Zustimmung der Expertenversammlung eine Ergänzung zu der Verfassung hinzu, die zur Grundlage für das heutige System Velayat-e-faghi wurde. Seither herrscht in Iran ein antagonistisches Modell von republikanischen und theokratischen Elementen. Offizielles Oberhaupt ist Imam Mahdi, eine Gestalt, die im Jahr 941 n.Chr. in die Verborgenheit entrückt wurde und die als wiederkehrender Erlöser erwartet wird. In der Periode seiner Verborgenheit wird er vertreten durch den Statthalter der Rechtsgelehrten, in diesem Fall Ayatollah Khamenei. Während dieser vom Expertenrat gewählt wird und auch abgesetzt werden kann, erfolgt die Wahl des Präsidenten und des Parlaments direkt vom Volk.
Als eine der mächtigsten Institutionen im Land gilt der zwölfköpfige Wächterrat unter dem Vorsitz des Hardliners Ahmad Dschannati. Er setzt sich aus sechs vom Obersten Religionsführer ausgewählten Geistlichen und sechs Juristen zusammen. Die Macht des Wächterrats ergibt sich aus zwei Aspekten: zum einen dient er als Auswahlfilter für jede Person, die eine Funktion im Staatsapparat ausüben wird und zum anderen können seine Mitglieder gegen jedes Gesetz, das das Parlament vorlegt, Einspruch erheben unter der Vorgabe es korrespondiere nicht mit islamischen Grundsätzen. 
Eine weitere Institution ist der schon erwähnte Expertenrat, der sich aus vom Volk gewählten aber vom Wächterrat ausgewählten Kandidaten zusammensetzt. Er wird von Haschemi Rafsandschani geleitet. Das vom Volk gewählte Parlament und die Regierung mit seinem Präsidenten, in diesem Fall Mahmoud Ahmadinedschad, besorgen das Alltagsmanagement des Landes. Schließlich gibt es noch den Schlichtungsrat unter dem Vorsitz von Rafsandschani, der auf den Plan tritt, wenn Parlament und Wächterrat keine Einigung über neue Gesetze erzielen können. 
Die religiösen Schulen von Qom
Nicht zu vernachlässigen sind in einem theokratischen System die Organisationen der Geistlichen. Die Stadt Qom beherbergt eine Vielzahl religiöser Schulen und gilt als Zentrum der Geistlichkeit. In Qom sind zurzeit sehr viele verstimmt. Sie halten die Gewalt gegen die Demonstranten für unangebracht und stehen überhaupt nicht hinter Ahmadinedschad, der in ihren Augen kein Muslim ist. 
Neben einigen moderat ausgerichteten religiösen Schulen wie der Vereinigung der in Qom ansässigen geistlichen Lehrer und Wissenschaftler, die von Ayatollah Mousavi Tabrizi geleitet wird, gibt es auch die Jamehei Modaresin Hozei Elmieh Qom (Die Gesellschaft geistlicher Tutoren aus Qom), geleitet vom ehemaligen Leiter der Judikative und stellvertretender Vizepräsidenten des Expertenrats Ayatollah Mohammad Yazdi, die den staatlichen Auftrag hat, Großayatollahs(Mardschah=Quelle der Nachahmung) zu ernennen. Diese Gesellschaft aus Qom hatte einst 70 Mitglieder, alles hochrangige Geistliche. Doch die Wahlen im Juni hat das Gremium gespalten. Sein Vorsitzender Mohammad Yazdi sprach vor den Wahlen eine eindeutige Empfehlung im Namen des Gremiums für Ahmadinedschad aus. Das hätte er besser nicht getan, denn 50 der Würdenträger waren mit Ahmadinedschad überhaupt nicht einverstanden und fühlten sich übergangen. Ihnen ist Ahmadinedschad zu unislamisch. Jetzt haben sie öffentlich protestiert und sind geschlossen aus dem Gremium ausgetreten. Yazdi, der nicht mit Ayatollah Mesbah Yazdi verwechselt werden darf, hat sich als Mitglied des Expertenrats einen weiteren Lapsus erlaubt. Auch hier schrieb er einen öffentlichen Brief im Namen des Expertenrates, der bei den Mitgliedern des Rates viel Ärger und Widerspruch auslöste, denn auch sie fühlten sich übergangen. Seither hat Mohammad Yazdi viel von seinem Einfluss eingebüßt. Er hätte sich gerne aus allen Ämtern zurückgezogen, aber Ahmad Dschannati, Ahmad Khatami und Golamhossein Elham, seine Verbündeten aus dem Wächterrat, überredeten ihn zu bleiben. Damit konnte jedenfalls Rafsandschani einen seiner Hauptwidersacher in die Schranken weisen. Es liegt aber auch ein tiefer Riss in der Machtkaste offen.
Nur der Oberste Führer kann das System zusammenhalten!
Über die Verteilung der Interessen, wie denn nun die Gesellschaft im Iran in der nahen Zukunft gestaltet werden soll, kann man vieles schreiben, denn es herrscht eine große Meinungsvielfalt selbst innerhalb des herrschenden Establishments. Wir fassen die Interessen in vier grobe Blöcke zusammen, von denen die Vertreter des vierten Blocks am wenigsten an der Macht beteiligt sind, aber die Keime zur Zukunft in den Händen halten.
Die erste Fraktion nennen wir Prinzipalisten, Hardliner oder Ausgrenzer, hier einige Namen: Ayatollah Mesabh Yazdi, Ayatollah Ahmad Khatami, Ayatollah Ahmad Dschannati, Ayatollah Mohammad Yazdi, Mohammed-Esmail Kowsari (Vizepräsident des Parlaments), Alaeddin Boroujerdi (Vorsitzender des Komitees für Außenpolitik und Nationale Sicherheit), sowie die Revolutionsgarden und die Bassidschi. Sie zeichnet die absolute Überzeugung vom theokratischen System mit einem unantastbaren Obersten Führer aus. Sie wollen mit allen Mitteln das System retten und jeden Gegner auslöschen. Der einzige Groß-Ayatollah, der hinter dieser Fraktion steht ist Ayatollah Nouri Hammedani. Die zweite Fraktion nennen wir die Konservativen, die Pragmatiker oder Integristen. Leute wie Habibollah Askar-Oladi Mosalman (Vorsitzender der Islamischen Koalitionspartei und einer der reichsten Männer im Land) oder Gholam Ali Haddad-Adel (Führer der politischen Partei Koalition der Kultivierenden des islamischen Iran und ehemaliger Parlamentspräsident) wollen auch am System und seinem Obersten Führer festhalten. Ihnen ist jedoch wichtig in Gesprächen mit den Hauptfiguren der sogenannten „Grünen Bewegung“ Überzeugungsarbeit zu leisten, um alle politischen Akteure unter den Schwingen Ali Khameneis zu integrieren.
Das System soll bleiben, es braucht aber eine andere Spitze
Die dritte Fraktion unterscheidet sich nicht nur in den Methoden ihre Ziele zu erreichen, sondern hat eine Nuance in der Ausgestaltung der Führung. Reformer, „Grüne Bewegung“, Moderate könnte das passende Etikett sein. Hier finden sich Politiker wie Mehdi Karroubi, Mirhossein Moussavi, Mohammad Khatami und die moderaten Ayatollahs, wie Mousavi Tabrizi oder Fazel Meyboudy. Auch sie wollen ein mit dem Islam verbundenes System aufrecht erhalten, sie wollen nur eine andere Lösung für die Spitze. Die Führung sollten drei Stellvertreter oder ein Gremium übernehmen und nicht ein Einzelner. Analysten halten diese Nuance in der Ideologie für ausschlaggebend, dass Ayatollah Khamenei oder seine engsten Mitstreiter alles dafür getan haben, dass die Wahlen zu Gunsten Ahmadinedschads ausgegangen sind. Das Volk witterte schon früh Betrug und sieht sich seit der erneuten Amtseinsetzung Ahmadinedschads, um eine starke Chance betrogen, Freiheit und Toleranz im eigenen Land zu erfahren.

Velayat-e-faghi ist in einer Sackgasse, wir brauchen einen Neuanfang
Die vierte Fraktion ist die vielschichtigste und farbigste Gruppe. Sie ist kein einheitlicher Block, sie verfolgt aber ein gemeinsames Ziel: ein Ende des Systems, ein Ende der Verquickung von Religion und Staatswesen. Es sind die Menschen, das Volk. Sie sehen einen zu großen Widerspruch zwischen republikanischen und theokratischen Elementen in der Verfassung. Sie wollen sich nicht von jemandem führen lassen, der sich aus dem Kontakt mit der unsichtbaren Welt legitimieren lässt. Das Volk im Iran sehnt sich nach Freiheit, Demokratie und der Möglichkeit sich zu entwickeln, statt von einer mafiaähnlichen Herrscherkaste dominiert, kontrolliert und schikaniert zu werden. Wann wird der alte Mann den Weg frei machen? Oder wird er sich von der Geschichte überrollen lassen?

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