Briefe aus Istanbul: Bericht von neuem Autor

Briefe aus Istanbul: Bericht von neuem Autor

Eine Gasse in Üsküdar, dem traditionellen Stadtteil Istanbuls (Foto: Phire)

Seit meinem Besuch lassen mich die  Erinnerungen an  die türkische Metropole nicht mehr  los. Vor ein paar Wochen habe ich  über die zweigespaltene Wahlsituation in Bezug auf das mit einer Mehrheit bestätigte Referendum berichtet. Der vermeintliche Schritt in Richtung einer demokratischeren Türkei war gleichzeitig ein kleiner Rückschritt und lässt das Risiko einer langsamen Erosion des säkularen Atatürk-Erbes stärker wachsen als je zuvor.

Klar, aus der bequemen Beobachterposition heraus lässt sich diese Feststellung einfach konstatieren. Doch gerade die Weltmetropole Istanbul bietet eigentlich genug Gründe, um jeglichen Kulturpessimismus aus unseren eurozentristischen Köpfen zu verbannen. Außerdem sind aktuelle Nachrichten aus der Türkei zurzeit kaum mehr als mit irgendwelchen zähen Aushandlungsergebnissen und dumpfen Symphatiebekundungen eines Außenministers in Bezug auf einen potentiellen EU-Beitritt verbunden. Nicht nur aus diesen Gründen konnten wir einen neuen Gastautor gewinnen, der in unregelmäßigen Abständen  von seinen Erlebnissen und Eindrücken aus der Stadt schreiben wird. Aus der Perspektive eines Deutschen, der im Tarlabaşı -Viertel in Beyoglu wohnt, lassen sich, fernab von interessengeleitetem Journalismus, gesellschaftliche Zusammenhänge und kulturelle Aspekte des Landes besser verstehen. Hier ein erster “Bericht”. Spontan. Direkt. Unmittelbar:

Zum ersten mal bin ich ein wenig der Eindrücke überfordert. Manchmal merkt man halt schon, dass Istanbul doch schon “anders”, doch schon krass ist, oder wenigstens sein kann. Die Türken warnen einen ständig, vor allem, überall sei es so gefährlich, da wird man irgendwann paranoid. Und später stellt man dann fest, dass die Geschichten doch stimmen, oder zumindest stimmen können. Gestern hatte ich dann noch einen wilden Streit mit einem Deutsch-Türken auf der Straße, der ist ziemlich ausgetickt. Der ist auch Austauschstudent, an derselben Uni wie ich, und ist echt ausgeflippt, so in typischer “Deutschland-Türken” Manier, wegen nichts, unglaublich. Eigentlich dachte ich an der Uni hätte man solche Leute überwunden.

Briefe aus Istanbul: Bericht von neuem Autor
İstiklal Caddesi, Haupteinkaufstraße in Beyoglu (Foto: Lucas)

Dann gab es gestern noch 2 Tote, abgestochen, auf der Istiklal, die ich aber zum Glück nicht selbst gesehen habe. Vorhin hab ich noch eine Freundin ein paar Meter nach Hause gebracht. Auf einmal kamen aus einem Haus tierische Hilfe-Schreie von einer Frau: “ruft-die-Polizei” etc. Man hat jemanden kämpfen gehört und Glas zerbrechen…und alle standen irgendwann vorm Haus, aber natürlich kam keine Polizei, und niemand hat etwas gemacht…

Briefe aus Istanbul: Bericht von neuem Autor
Wahlwerbung zum türkischen Referendum (Foto: Lucas)

Vor ein paar Tagen hat hier eine Kunstaustellung aufgemacht und auch Atatürk war ein Thema, natürlich eher kritisch betrachtet. Kurz nach der Eröffnung haben dann einige Faschisten die Galerie gestürmt und Leute angegriffen. Ist nichts wirklich Schlimmes passiert, aber einige Leute kamen ins Krankenhaus. Die Polizei kam erst nach einer Stunde und das mitten in Beyoglu. Meine Mitbewohner meinten, die Aktion wäre auf jeden Fall auch im Zusammenhang bezüglich des Verlusts der Nationalisten und des Militärs bei dem Referendum zu sehen. Es gilt eben Flagge zu zeigen, wie immer in schwierigen Zeiten. Die Faschisten hingegen gaben an, die Galerie gestürmt zu haben, weil Alkohol getrunken wurde, evtl. auch ein bisschen auf der Straße davor. Das jedoch war mit Sicherheit gelogen, da die Aktion offensichtlich geplant war…

Einleitung: Phire / Text: Lucas / Fotos: Lucas und Phire

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Die andere Seite des Referendums: Milliyetçi Hareket Partisi (Partei der Nationalistischen Bewegung) plädierte für Hayir (Nein) (Foto:Phire)


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