Alarm für Shanti (Teil 2) – Spring doch!

Nachdem Shanti während der ganzen Fahrt über energisch auf dem Rücksitz geplärrt hatte, kamen wir überraschenderweise ohne Nervenzusammenbruch an der Einsatzstelle an. Wir befanden uns in einem Wohnghetto, in dem sich Betonsilos neben einzelne, unglücklich aussehenden Bäumen reihten. Vor einem dieser Häuser war ein größerer Menschenauflauf. Auf dem Geländer des Balkon im zweiten Stock konnten wir einen korpulenten Mittvierziger im Jogginganzug sehen, der auf dem Geländer balancierte, in der Hand eine Flasche mit Hochprozentigem, jedenfalls soweit ich das von unten sehen konnte. Die Kollegen von der Feuerwehr und die Herren in Grün waren auch schon vor Ort. Die beiden Jungs vom Rettungsdienst und der Polizei, die was zu sagen hatten, kamen auf mich zu. Shanti stand halb hyperventilierend neben mir. Maurice hatte sich entspannt ans Auto gelehnt und zündete sich eine Zigarette an. Ich schüttelte missbilligend den Kopf. Er zuckte nur mit den Schultern. “Das kann ja noch Stundend dauern!” nuschelte er neben Zigarette und Tabakqualm her.
“Wer ist denn hier verantwortlich?” fragte der Polizist.
“Ich, ich!” schrie Shanti.
“Vergiss es.” entgegnete ich und schon ihn zur Seite.
“Aber das ist doch genau mein Fachgebiet!” rief er.
“Willste mit dem jetzt ne Verhaltenstherapie machen, oder was?” Ich war schon leicht genervt. Der Polizist blickte irritiert von einem zum anderen.Den Rettungsassistenten kannte ich zumindest vom Sehen. Ich nickte ihm zu.
“Das ist die Notärztin.” Er zeigte auf mich. “Wer der Typ ist, weiß ich ehrlich gesagt nicht.”
“Ich bin Shanti und ich bin erleuchtet! Ich kann helfen!”
“Das wollt Ihr nicht, glaubt mir einfach.” erklärte ich den beiden.
“Dir habe ich doch auch schon geholfen!” erklärte Shanti laut an mich gewandt. “Weißt du nicht mehr, als dein Student dir das Muskelrelaxanz gespritzt hat und sie dich beatmen mussten und dir dann auch noch deine Klamotten ausgezogen haben. Weißt du das nicht mehr? Du warst so traumatisiert, dass du mit einem Wischmop zum Chef gerannt bist und den Studenten erschlagen wolltest.” Der Polizist guckte jetzt ein wenig argwöhnisch. Ich drehte mich zu Shanti um.
“Shanti, wenn du jetzt nicht sofort deine verdammte Klappe hältst, dann erzähle ich allen, wie du und Maurice heute…” Ein lautes Husten unterbrach mich. Es kam von Maurice. “Ich glaube, das reicht!” warf dieser energisch ein. Ich entschied für mich, dass es das wohl wirklich tat und wandte mich erneut dem Polizisten und dem Rettungsassistenten zu: “Was haben wir denn hier?” Unterdessen brüllte der Herr auf dem Balkon unablässig weiter. “Ihr Pack, Ihr Blödes! Sagt meiner Alten, sie soll jetzt sofort wieder herkommen! Sonst spring ich!”
Der Polizist hob die Augenbrauen. “Nun, da ist Herr Kleinschmitt. Wie wir bislang aus seinen Aussagen entnehmen konnten, wurde er von seiner Frau verlassen und droht mit Suizid, wenn diese nicht zu ihm zurück käme.”
“Scheint mir jetzt nicht die schlechteste Alternative, wenn ich mir den Herrn Kleinschmitt so anschaue…”
“Anna!” Maurice  blickte mich entsetzt an.
“War ja nur ein Scherz…” gab ich kleinlaut zurück. “Können wir denn die Frau von Herrn Kleinschmitt wiederbeschaffen?” fragte ich den Polizisten.
“Das erscheint mir unwahrscheinlich. Sie ist heute morgen zu ihrer Schwester nach Bangkok gereist und derzeit im Flieger.” sagte der Polizist.
“Habt ihr ihm das schon gesagt?” fragte ich die Umstehenden. Man blickte mich zweifelnd an. “Ok, ok.” Ich überlegte. “Wie hoch ist das? Vier Meter?”
“Ungefähr.”
“Och ja… da geht noch was… warum ist er denn nicht aufs Dach hochgestiegen, wenn er schon runterspringen will? Das Verletzungsmuster ist bei vier Metern prognostisch eher ungünstig, zumindest unter der Prämisse des Suizids.” Der Polizist sah mich verständnislos an.
“Sie meint, das ist wahrscheinlich nicht hoch genug!” übersetzte Maurice für mich.
“Oh.” sagte der Polizist. “Nun, er scheint mir ziemlich betrunken.”
“Mir auch.” entgegnete ich. “Hilft nichts. Haben wir schon was so zum drunterschieben?”
“Wird gerade beschafft und aufgebaut, dauert aber noch einen Moment.” sagte der Assistent. “Die Wohnungstür ist von innen abgeschlossen, von den anderen Balkonen aus kommen wir nicht ran. Die Jungs sind an der Tür und verschaffen uns in diesem Moment zutritt.
“Das ist ja schon mal was.” Ich war zufrieden. Viel konnte eigentlich nicht schiefgehen. Herr Kleinschmitt hatte es sich derweil auf dem Geländer bequem gemacht und lamentierte weiter herum. Dabei hatte er sich mit dem Fuß fest eingehakt und hielt mit der freien Hand ein Rohr umklammert, das seitlich des Geländers nach oben lief. Er machte daher auf mich nicht den Eindruck, als habe er ernsthafte Absichten zu springen.
“Gut.” sagte ich zu Maurice. “Dann gehen wir da jetzt rein und lösen die Sache irgendwie von innen, jedenfalls sobald die Jungs es hier auf dem Gehweg ein wenig flauschiger gemacht haben. Und dann bestellt schon mal ein Bett in der Psychiatrie.”
“Mach ich.” sagte Maurice.
Ich drehte mich um. “Wo ist eigentlich Shanti?” fragte ich den anderen Rettungsassistenten. Dieser blickte sich auch überrascht um.
“Der war doch gerade noch hier?” sagte er.

Ich ahnte Schreckliches. Und Recht hatte ich. “Oh nein!” entfuhr es mir noch, als ich ein paar Dreadlocks hinter der halb geöffneten Glastür des Balkons von Herrn Kleinschmitt erblickte…


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