109. Ich

Andere gingen ins Exil, wo sie sich meist mehr schlecht als recht durchschlugen. Dafür steht zum Beispiel Albert Ehrenstein („Er hat wunderbar expressionistische Gedichte verfasst“), der in den USA auf Almosen von Freunden angewiesen war. Nach dem Krieg kehrte er wie so viele mit einem Koffer voller Manuskripte nach Deutschland zurück, um festzustellen, dass niemand ihn mehr kannte und an seiner Literatur interessiert war. Ehrenstein ging wieder in die USA zurück und starb dort völlig verarmt. / Im badischen Ettenheim sprach Gerd Berghofer über die von den Nazis vertriebenen Autoren, Badische Zeitung

Ehrenstein ist einer der 3 „Steine“ (neben Lichtenstein und Wolfenstein) der Menschheitsdämmerung, von dem mir Verse („Wochen, Wochen sprach ich kein Wort; / Ich lebe einsam, verdorrt.“ – „Wie bin ich vorgespannt / Dem Kohlenwagen meiner Trauer!“) seit der glühenden Erstlektüre im Gedächtnis hängen. Nach der Anthologie stieß ich auf den schon 1967 im Ostberliner Aufbau-Verlag erschienenen Auswahlband „Stimme über Barbaropa“ in deren Variante einer „Weißen Lyrikreihe“, die anders als die von Volk und Welt nicht der Weltlyrik, sondern der deutschen Lyrik des damals anhängigen Jahrhundertanfangs gewidmet war, Lasker-Schüler, Herrmann-Neiße, Heym fallen mir ein, Benn durften sie wohl nicht, der erschien erst viel später beim Konkurrenzunternehmen. 1987 bescherte mir ein amerikanisch-deutsch-deutscher Glücksfall eine Auswahl der Exilbriefe in der Reihe „Unvergessene Autoren der Moderne“ – die amerikanische Germanistikstudentin Patricia Simpson schrieb nach einem Besuch in Greifswald einen Bittbrief an Karl Riha, und der ließ mir fortan die legendäre Reihe „Vergessene Autoren der Moderne“ via Uniadresse schicken (erst in den 90er Jahren konnte ich auch mal eine Rechnung bezahlen). 1996 erschien in der nun von von Marcel Beyer mitherausgegebenen Reihe eine Ehrenstein-Textcollage von Werner Herbst und Gerhard Jaschke.

In der Werkausgabe des Klaus Boer Verlages gibt es neben 2 Bänden Lyrik auch 2 mit Übersetzungen chinesischer Literatur, je einer für Lyrik und Prosa. 500 Seiten übersetzte Lyrik aus China aus dem antiken Schi-King und von klassischen Dichtern wie Li Bai (Li Tai-Po), Tu Fu oder Po-Chü-i. 1933 befand sich der Band „Das gelbe Lied“ im Druck, als die Nationalsozialisten an die Macht gehievt wurden. Nur 17 Exemplare konnten gedruckt werden, dann wurde der Druck gestoppt und das Buch mit den deutschen Fassungen der chinesischen Klassiker verboten. Nach 1945 suchte Ehrenstein einen deutschen Verlag dafür, aber keiner war interessiert. Jörg Drews gelang es 1969/70, einen Zyklus von 15 bis dahin nicht veröffentlichten Nachdichtungen im Jerusalemer Nachlaß zu finden, wohin zahlreiche deutsche Manuskripte und Autoren quasi ausgelagert wurden mangels Bedarf, wenn man es so sagen darf. Drews veröffentlichte die 1970 und 1984 in der Friedenauer Presse: „Ich bin der unnütze Dichter, verloren in kranker Welt. Nachdichtungen aus dem Chinesischen von Albert Ehrenstein“. Die Titelzeile stammt von Tu Fu (Du Fu), das Gedicht „Ich“ schreibt sich beim Wiederlesen in meine Anthologie.

Du Fu

Ich
Ich bin der Stromer zwischen den großen Strömen,  
Ich bin der Irrwanderer der Sehnsucht,
Ich bin der unnütze Dichter, einsam, verloren in kranker Welt, 
Ich bin ferne der Heimat die einzige Wolke am blauen Himmel, 
Ich bin allein der Mond die lange Nacht, 
Ich bin der Fremde, der zu sterben heim will,
Ich bin ein Greis, aber ich gehe wie die Sonne unter,
Ich bin der Jahrhundertbaum, angefallen vom Endsturm,
                                   mein Herz ist wilder als Herbst,
Ich bin das alte Pferd, seit ältesten Zeiten rührten euch alte Pferde,
Sie habt ihr weiter gefüttert – nicht mich.

Ich bin der unnütze Dichter, verloren in kranker Welt. Nachdichtungen aus dem Chinesischen von Albert Ehrenstein. Berlin: Friedenauer Presse 1984, 2. Aufl., S. 13.

In der Werkausgabe, Band 3/1 u.d.T.: Wär ich ein altes Pferd. Albert Ehrenstein: Werke. Band 3/1. Chinesische Dichtungen. Lyrik. Boer 1995, S. 456.

Textvarianten:

V. 2: Irrwanderer vor
V. 3: in wilder Welt,
V. 4: Heimat,
V. 6 steht als V. 3 in der Fassung: Ich bin der Fremde, der endlich heim will,
V. 8: härter als Herbst,
V. 10 länger und auf 2 bzw. wegen Zeilenumbruchs 3 Verse verteilt: Ich bin das alte Pferd! Ein altes Lied: dies sei das sechste Lied, oh/ wieherte ich müd – / Seit den ältesten Zeiten rührten euch Herren der Erde alte Pferde,
V. 11: gefüttert: nicht mich!

Verblüffend, wie die chinesischen Verse im Ton Ehrensteins eigenen Gedichten gleichen, ob Menschheitsdämmerung, ob Exil.



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