Liebes Tagebuch, ich führe doch lieber ein Sudelbuch

Da Schreiben und Lesen immer schon zwei meiner größten Leidenschaften waren, gingen in meiner Jugend viele Menschen ganz selbstverständlich davon aus, dass ich Tagebuch führen würde - und auch ich selbst dachte, ich müsste Tagebuch führen. Es lag bei mir einfach auf der Hand, nur lag es mir überhaupt nicht. Von dem Konzept, das die perfekte Alternative zum Tagebuch darstellt, habe ich leider erst später erfahren: dem Sudelbuch.

Meine Versuche, Tagebuch zu führen, ganz so, wie es ja perfekt zu mir zu passen schien, verliefen ziemlich kläglich. Ich hatte immer das Gefühl, es falsch zu machen, obwohl es ja gar keine Leser im eigentlichen Sinne gab. Die Dinge, die ich aufschrieb und wie ich sie aufschrieb, erschienen mir Tage oder sogar schon Stunden später irgendwie unpassend für ein Dokument, das im Idealfall mein Leben überdauert. Im Vergleich zu dem, was mir damals Film, Fernsehen und Literatur über Tagebücher vermittelten, war mein Geschreibsel zu banal, zu chaotisch, zu unpersönlich, dafür eher voller Fakten und Beobachtungen, die nicht direkt etwas mit meinem Leben zu tun hatten. Irgendwann gab ich es ganz auf. Es ist schade, dass ich damals noch nichts über das Prinzip des Sudelbuchs wusste.

Das Sudelbuch wurde, wenn man so will, bereits im 18. Jahrhundert erfunden, von dem Mathematiker und Physiker Georg Christoph Lichtenberg. Dieser führte

über 30 Jahre seines Lebens, von 1764 bis zu seinem Tod 1799, simple Hefte, in die er allerlei spontane Einfälle, Alltagsbeobachtungen, Fragen, satirische Bemerkungen und Witze schrieb. Insgesamt kamen so gut 10000 Notizen zusammen. Zwei Jahre nach Lichtenbergs Tod wurde eine Auswahl dieser hinterlassenen Papiere unter dem Titel „Sudelbücher" herausgegeben. Eine bekannte Persönlichkeit, die sich davon inspirieren ließ, war der Schriftsteller Kurt Tucholsky, der von 1928 bis zu seinem Tod im Jahr 1935 ein Sudelbuch führte. Dieses wurde erst 60 Jahre später veröffentlicht.

Ein eigenes Sudelbuch

„Richtige" Sudelbücher sind keine schicken, verzierten Büchlein mit niedlichen Schlössern, die ein Zweijähriger mit einem Duplo-Stein knacken könnte, sondern einfach irgendwelche Notizbücher- oder blöcke. Es können auch Vokabelhefte, Taschenkalender oder - in subtilem Gedenken an Herrn Lichtenberg - Mathehefte sein. Von mir aus auch die Seitenränder des Physikbuchs der 10. Klasse, das kann ein bisschen Humor vertragen. Im 21. Jahrhundert kann man sein Sudelbuch freilich auch als Blog führen, aber dabei geht sicherlich viel sudeliger Charme verloren, von Privatsphäre und der Möglichkeit zur schonungslosen Offenheit ganz zu schweigen. Spontane Gedanken und witzige Einfälle sind nicht unbedingt immer 100% politisch korrekt, jugendfrei und karrierefördern.

Was gehört nun also in ein Sudelbuch? Alles, was einem durch den Kopf geht! Ein witziger Reim, auf den man gekommen ist, während man sein Frühstücksbrötchen belegt hat, eine interessante Bemerkung, die man auf der Straße aufschnappen konnte, Gedanken zu einem Lied, das während der Autofahrt im Radio lief, lose Handlungselemente für einen Roman, den man sowieso nie schreibt, Eindrücke zu einem Film, den man zuletzt oder auch schon vor 4 Jahren gesehen hat ... eben wirklich alles. Man muss es nicht gründlich ausformulieren, es muss keine Reihenfolge zu erkennen sein und Kritzeleien passen auch gut dazwischen. Es handelt sich um Notizen, um fragmentarische Dokumente, die keinem festen Stil folgen und deren Vorhandensein und Zustandekommen man in keinen Kontext stellen muss. Nicht Gefühle stehen im Vordergrund, sondern das Gesehene, das Gehörte, das Gedachte, das Drübergelachte.

Als gescheiterte Tagebuchautorin hätte ich natürlich in jungen Jahren auch selbst auf eine solche oder ähnliche Form des Schreibens kommen können, aber hier haben mal wieder die Bäume den Blick auf den Wald versperrt. Andererseits ist es absolut nie zu spät, mit einem Sudelbuch anzufangen. Kurt Tucholsky war auch schon 38 Jahre alt, als er damit begann, sein Sudelbuch zu führen.


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