Der Wert eines Arbeiters

Da lag er. Er sei tot, wie man mir sagte. Ich konnte nur seine bejeansten Beine, seine mit Stahlkappen gefütterten Schuhe sehen. Alles andere war von einem grünen Stahlschrank verdeckt. Als ich die Werkshalle zur Spätschicht betrat, fiel mir eine Ambulanz, fiel mir ein Polizeiwagen auf. Alleine ich dachte mir wenig dabei; sei es aus jugendlicher Ignoranz gewesen, sei es, weil ich anderen Gedanken nachhing. Ich zog mich gedankenlos um, verschloss gedankenlos meinen Spind, betrat gedankenlos und wenig motiviert die Produktionshalle, ging an die Maschine, die mir bis Neun kostbare Freitzeit stehlen sollte, ging nochmal zurück zur Automatenstation, um mir eine Cola zu ziehen, kam zurück und da erst sah ich Beine und Schuhe; sah ich Polizei, Notärzte, sah ich Abteilungsleiter und Meister, sah ich Arbeiter, die am Leichnam vorbei paradierten.
Das ist nun viele Jahre her. Ich habe es nie vergessen. Konnte es nie vergessen. Wie denn auch? Kaum etwas prägte mich so sehr, kaum etwas widerfuhr mir so roh und unmenschlich, wie das, was sich damals ereignete.

Der Tote war ein Leiharbeiter, der etwa zwei Wochen vorher in die Abteilung kam. Viel gesprochen hatten wir bis dato nicht, denn er war viel zu fleißig, immer in Eile, fand keine Zeit zum Plaudern. Später erfuhr ich, er war Mitte Vierzig, verheiratet, Vater. Vielleicht eine Stunde bevor ich die Halle betrat, bevor ich ihn am Boden liegen sah, das was ich von ihm sehen konnte, nahm er sich eine Stahlkiste, um darin irgendwelche Teile, die er vorher gespindelt oder gebohrt oder wer weiß was hatte, einzuräumen - nahm er sich, ging einige Schritte, fiel um, war vermutlich sofort tot. Die Todesursache habe ich nie erfahren. Man kann sie sich ausmalen, wenn man ihr unbedingt Bedeutung zumessen möchte.
Rückblickend sage ich, dass dergleichen passiert - tragisch, aber es passiert, es ist unvermeidbar, man muss damit leben, man muss damit sterben. In jenem Augenblick damals nahm ich es nicht so stoisch auf, damals war ich erschüttert, ratlos - als junger Mensch erschlägt einen die Brutalität des Lebens und speziell des Entlebens. Man glaubt, an einer schrecklichen Ungerechtigkeit beteiligt zu sein, wenn jemand so stirbt. Das sind Keime metaphysischer Revolte, Auflehnung gegen Naturgewalten, gegen Unentrinnbares. Altert man, erkennt man, dass solche Revolten schwachsinnig sind. Man erfährt Demut, lernt hinzunehmen.
Ich war damals also mit dem Tode konfrontiert, was ich bis dahin nicht sehr oft war. Nicht lange danach sollte mein Vater sterben und erst dann wurde mir bewusst, was es bedeutet, den Tod eines Menschen zu verarbeiten, den man liebte. Damals, als der Leiharbeiter starb, war da der Tod, aber die Verarbeitung, die quälenden Stunden danach, die langen Wochen der Trauer, die lernte ich nicht kennen. Nur der Augenblick des Todes, die Momente darauf, bis der Leichnam aus den Augen war.
Zur Erklärung: Leiharbeiter, sage ich. Wie soll ich sonst sagen? Seinen Namen weiß ich nicht mehr. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn je kannte.
Zur Erklärung: So ergeht es vielen Leiharbeitern in Entleihbetrieben, selbst nach Monaten kennt man ihren Namen noch nicht.
Zur Erklärung: Das entschuldigt nichts, ich hätte mit dieser Tradition, den Namen eines Leiharbeiters nicht erfragen zu wollen, brechen können.
Zur Erklärung: Ich war jung, ich war dumm... ich war nicht der, der ich heute bin. Ich kannte Heraklit noch nicht. Heute kenne ich ihn. Niemand steigt zweimal in denselben Fluss; in dem Wasser von damals, stehe ich heute nicht mehr.
Nach vergeblichen Bemühungen der Notärzte: sie holten ihn nicht mehr zurück. Da lag er jetzt und nun geschah, was sich mir einbrannte. Es war nicht der Tod, mit dem findet man sich ab. Man lebt auch weiter, wenn die Eltern gehen, man überlebt den Verlust eines Partners. Der Tod ist irgendwann akzeptabel. Nicht aber der Umgang mit ihm. Denn die Arbeitsplätze unmittelbar neben dem Leichnam wurden nicht etwa pietätvoll geräumt, die Arbeit wurde nicht etwa unterbrochen. Nein, es musste ja verdient werden. Da werkelten und schufteten sie direkt neben dem Leichnam. Einer, die widerlichste Figur der Abteilung, stand zwei Meter weg, blies seine Stahlleisten mit Druckluft ab, arbeitete pausenlos, ja mir schien, er arbeitete pausenloser als sonst - vielleicht verständlich, stand doch der Abteilungsleiter mit einem Polizeibeamten gleich bei ihm, gleich beim Leichnam. Ersterer ließ sich selten hienieden sehen, aber heute war er da; und mit dem Beamten flachste er, lachte er, gab sich nonchalant - das alles direkt neben der sterblichen Hülle dieses Mannes, für den er wenigstens theoretisch verantwortlich war.
Niemand kam auf die Idee, die Arbeit ruhen zu lassen, bis der Leichnam beseitigt wäre. Mein Kollege, die mir entgegengesetzte Frühschicht, war empört, stellte die Arbeit ein, er könne das nicht, so tun als sei nichts, meinte er. Aber so viele andere, sie machten weiter, machten einige Meter vom Toten so weiter, als sei nichts geschehen. Man bedeckte den Toten nicht, man spannte keinen Sichtschutz auf. Ich stellte mir vor, wie der Typ, der seine Stahlleisten fertigte, Späne und Kühlmittelreste auf diesen toten Menschen blies; ich empfand Ekel vor einer Haltung, die den Menschen nicht würdigt, die ihn wie eine Funktion, wie einen Apparat zur Pflichterfüllung behandelt.
Wenn der Mensch stirbt, so hat sein Leichnam in jeder Kultur mehr oder minder, auf die eine oder andere Weise, noch einen Anspruch, mit gewisser Würde behandelt zu werden. Der Augenblick des Todes ist nicht der Augenblick, in dem wir dem Leichnam das Menschsein absprechen. Die sterbliche Hülle ist nicht einfach organischer Abfall, sie ist etwas Kostbares, sie ist einerseits das Antlitz der eigenen Sterblichkeit, die wir auch respektiert wissen wollen im Fall der Fälle. Und sie wird andererseits gewürdigt, um einen letzten Liebesdienst an einem Menschen zu tun, den man respektierte, schätzte oder sogar liebte. Der Leiharbeiter, tot in der Halle, der zwischen Arbeitseifer und scherzenden Abteilungsleiter lag, er war in dem Moment, da er umfiel, wertlos geworden. Gerade noch Personalressource, gerade noch Träger von acht Stunden Arbeitszeit, gerade noch Faktor für die Buchhaltung, ward er zum störenden Fleischklumpen gewandelt, den man schnell loswerden wollte; ward er zur entwerteten Hülle reduziert, die den Produktionsablauf bloß nicht behindern sollte.
In jenen Jahren wusste ich nicht viel vom Kapitalismus. Den Begriff kannte ich, aber was er bedeutet, wie er sich definierte: keine Ahnung! Es kümmerten mich andere Dinge; ich widmete mich den Sachen, die man in jenem Alter für wichtiger erachtet und die da wohl auch wichtiger sind. An jenem Tag machte ich Bekanntschaft mit dem Zynismus des Systems, damals lernte ich, dass es keine Romantizismen kennt, dass es knallhart ist, dass es Menschen nicht für durchblutet und beseelt, sondern für funktional und nützlich ansieht.
Keiner behinderte die Arbeiter, die aus anderen Werkshallen herströmten, um das Tagesgespräch mit eigenen Augen zu sehen. Keiner hatte auch nur den Anflug pietistischer Ansichten. Sie kamen zum Gaffen, sie kamen um mit dem Finger auf ihn zu deuten. Ein Moslem betete - der hat sich mir eingebrannt; er war das menschliche Antlitz dieses Tages. Der Abteilungsleiter stand daneben, noch immer im angenehmen Gespräch mit dem Polizisten und sagte nichts zu den Gaffern - sie gingen ihn ja nichts an, sie kamen aus anderen Abteilungen, für die er nicht verantwortlich war. Wären sie aus seiner Abteilung gewesen, er hätte natürlich einschreiten müssen - nicht aus Pietät gegenüber dem Toten, sondern aus Respekt vor dem Profit.
Natürlich denkt sich nun mancher, der Verfasser übertreibt, bauscht auf, um pointierter zum Ziel zu geleiten, damit seine billige Parabel nicht verröchelt, bevor sie sich entfaltet. Ich könnte verstehen, wenn man das meint. Nur es wäre ein falscher Verdacht. Nichts ist hier auf die Spitze getrieben - exakt so war es, genau so und vielleicht noch derber, ging es zu. Vielleicht habe ich manche zynische Nuance damals noch gar nicht verstanden.
Ich sehe diesen schlacksigen, in Anzug gerafften Mann immer noch vor mir, seine Visage, seine Zahnleiste, seine in Körperhaltung veranschlagte Arroganz. Diesen Abteilungsleiter mit einem Allerweltsnamen, den ich allerdings nicht mehr weiß, weil er so allerweltlich war. Der, der seine Stahlleisten bohrte, der sie entgratete, sie abblies, sie in Kisten schichtete, den habe ich auch noch vor Augen. Er war nicht der einzige, der in Gegenwart des Leichnams so arbeitete, als sei nichts geschehen. Aber ihn habe ich noch im Kopf, ihn habe ich nicht vergessen. Ich meine, ich kannte ihn ja leider vorher schon, er erzählte mir von seinen Heldentaten als Fischereiaufseher, davon, dass ihn junge Mädchen anschmachteten, weil er der Sheriff vom Baggersee sei. Er war, ich mache es kurz, ein Dummkopf, der sich gerne hervortat - und dass er nach einer Weile, da er so neben dem Tod arbeitete, meinte, er habe heute mehr geschafft, als zeitlich veranschlagt war, zeigt das doch anschaulich. Dieses System, dieser Kapitalismus, das wurde mir viel später, bei der Exegese jenes Tages, deutlich, ist das geliebte System von gewissenlosen Zynikern, geschaffen für ausgemachte Dummköpfe.
Ich will die Ereignisse jenes Tages, von dem ich nicht mal mehr ein Datum habe, nicht als Parabel feilbieten. Sie taugt dazu womöglich nicht. Vielleicht ist sie mir eine persönliche Parabel - als ein Erweckungserlebnis dient mir jener Tag aber sicher. Er rührte am Schlaf meiner jugendlichen Welt. Mir fielen nicht flugs Schuppen von den Augen, was da geschah, rumorte und arbeitete lange in mir; aber klar ist mir, ich will so etwas nie wieder erleben. Und falls doch, so werde ich nicht, so wie damals, als ich ein junger Mann war, ja ein Bub eigentlich noch, schweigen.

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