Der Mord an ✡ 20 Kindern am Bullenhuser Damm in Hamburg

Der Mediziner Kurt Heißmeyer war weder im Studium, noch in seinem darauf folgenden Wirken durch besonderen Fleiß oder eine Neigung zur Wissenschaft aufgefallen, eher fiel er darin auf, die Karriereleiter möglichst problemlos und schnell nach oben fallen Schulgebäude Bullenhuser Dammzu wollen. Hier boten ihm der Nationalsozialismus und seine verwandtschaftlichen Kontakte zur Waffen-SS sowie seine überaus freundschaftlichen Verbindungen in das SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt und zu dessen Leiter, einen überaus guten Nährboden. Um seinen Traum einer Professur verwirklichen zu können, musste Heißmeyer eine wissenschaftliche Arbeit verfassen. So wandte er sich an den Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti. Er wollte Versuche zur Tuberkulose durchführen, um eine wirkungsvollere Bekämpfung zu entwickeln. Dabei vertrat er die Hypothese, dass eine Tuberkulose durch eine zweite Infektion im Sinne einer Impfung geheilt werden könne. Diese Meinung war schon zur damaligen Zeit widerlegt, was Heißmeyer aber nicht wusste, da er sich nicht eingehend mit der Materie beschäftigt hatte, doch allen bereits bestehenden wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Trotz, wurde es ihm gewährt in dieser Richtung zu forschen. Um Zeit zu sparen, sollte gleich an Menschen experimentiert werden. Heißmeyer begann mit diesen Experimenten ab April 1944 im Konzentrationslager Neuengamme. Es wurde dort eine Baracke eingerichtet, die ‚Sonderabteilung Heißmeyer’ hieß. Die Versuche wurden zuerst an Erwachsenen durchgeführt und endeten ergebnislos auf wissenschaftlicher Ebene, für die Opfer endeten diese mit dem Tod.  

Um die gleiche Zeit herum bekam der berüchtigte Arzt von Auschwitz Josef Mengele die Weisung aus Berlin, zwanzig jüdische Kinder für medizinische Experimente ins Konzentrationslager Neuengamme zu schicken. Dieser ließ zwanzig Kinder auswählen und in eine gesonderte Baracke unterbringen, hier wurden die Kinder gut ernährt, bekamen sogar Spielzeug und waren sauber in Privatkleidung gekleidet, die durften sogar vor der Baracke, in einer vorgegebenen Ecke, spielen. Alle Eltern und Verwandte der Kinder waren bereits ermordet, so blieben für sie die einzigen Bezugspersonen drei polnische Krankenschwestern und eine Ärztin, alle vier ebenso Häftlinge des Vernichtungslagers Auschwitz. Am 27. November 1944 wurden die Kinder mit ihren vier ehemaliges KZ NeuengammeBetreuerinnen in den Zug gesetzt und in das Konzentrationslager Neuengamme verfrachtet. Zwei Tage dauerte die Reise, doch den Kindern ging es gut, es war genug Proviant vorhanden und auch ihr Spielzeug durften sie mitnehmen, so empfanden sie die Reise eher als ‚Abwechselung’, denn als Bedrohung. Den ‚Judenstern durften sie während der Reise nicht tragen, um eventuellen Fragen zu entgehen. Nach ihrer Ankunft wurden sie in einer sauberen Krankenbaracke untergebracht. Hier kümmerten sich die beiden Häftlingspfleger Dirk Deutekom und Anton Hölzel liebevoll und aufopfernd um die Kinder; für deren ‚gesundheitliches’ Wohl waren die französischen Professoren Ren Quenouille und Gabriel Florence, ebenfalls beide Häftlinge des Lagers zuständig. Die drei Krankenschwestern, die die Kinder begleitet hatten, wurden zwei Tage nach ihrer Ankunft in Neuengamme gehängt, die sie begleitende belgische Ärztin Paulina Trocki wurde in der Außenlager Beendorf, bei Magdeburg, überstellt, über ihren weiteren Verbleib wissen wir nichts. Die 20 Kinder wurden sehr gut versorgt, denn wenn die Versuche durch den Arzt Kurt Heißmeyer beginnen sollten, dann sollte ihr Allgemeinzustand gut sein, so litten die Kinder nicht an äußerlichem Mangel oder guter Betreuung, sondern eher daran, von ihren Eltern getrennt zu sein, dies konnten auch die sie umgebenden Häftlinge nicht ausgleichen, so gut sie es auch versuchten.
Obwohl Kurt Heißmeyer sein Scheitern in Hinsicht auf die Menschenversuche mit Tuberkulosebazillen erlebt hatte, kam er Mitte Januar 1945 aus Hohenlychow, hier war er als Oberarzt in einem Sanatorium tätig, in das Konzentrationslager Neuengamme, um an den Kindern seine Experimente fortzusetzen. Der Gefangene Herbert Kirst musste den zehn Jungen und zehn Mädchen, neben vierzehn Polinnen und Polen ein niederländisches Brüderpaar, zwei Franzosen, ein Jugoslawe und ein Italiener, in die Brust schneiden und die tuberkulöse Bakterienlösung in die Wunde einreiben. Nach zwei Tagen brach bei den Kindern hohes Fieber aus. Die durch die Verletzungen und den Einfluss der Bakterien körperlich stark geschwächten Kinder wurden einer zweiten sehr schmerzhaften Versuchsreihe unterzogen, dabei schob Heißmeyer einen Gummischlauch durch die Luftröhre in die Lungenflügel, um eine Lösung mit Tuberkulosebakterien direkt in die Lungen mit einem Becher einzugießen. Dabei kam es häufig zu Verletzungen und Blutungen der Lungen der Kinder. Zur Vervollständigung der Versuche musste der tschechische Häftlingsarzt Bogumil Doclik den Kindern die Lymphdrüsen herausoperieren. Die beiden französischen Mediziner Florence und Quenouille, die als Widerstandskämpfer gefangen genommen und nach Hamburg verschleppt worden waren, mussten assistieren. Sie führten auch die Fieberkurven. Die Kinder bekamen lediglich eine örtliche Betäubung mit Novocain und nach zwei Wochen wurden ihnen die Lymphdrüsen auf der anderen Körperseite herausoperiert. Hans Klein stellte erneut fest, dass sich auch bei diesen Versuchen keine Antikörper gebildet hatten. Der Gesundheitszustand der Kinder verschlechterte sich immer mehr, doch Heißmeyer brach die Versuche an den Kindern nicht ab, doch ab Mitte März 1945 ließ er sich nicht mehr in Neuengamme sehen. Da in dieser Hinsicht keine Maßnahmen eine Umkehr der ‚medizinischen’ Maßnahmen vorgenommen wurde, verschlechterte sich der Zustand der Kinder immer mehr. Sie litten furchtbar. Der Kommandant, des Konzentrationslagers Neuengamme und deren vielfältiger Außenlager, Max Pauly, fragte bei dem SS-General Oswald Pohl in Berlin an, was mit den Kindern geschehen sollte. Wenn sie den Alliierten in die Hände fielen, waren sie lebende Beweise für die Verbrechen der SS, so kam am 20. April 1945 der Befehl per Fernschreiber: „Die Abteilung Heißmeyer ist aufzulösen.“ Das hieß im Klartext, nicht nur die Kinder sollten ermordet werden, sondern auch die beiden französischen Ärzte und die zwei holländischen Pfleger.

Die britischen Truppen standen sechs Kilometer Luftlinie von Neuengamme entfernt. Der Kommandant befahl, die Kinder nicht im Lager umzubringen, sondern im ‚Außenlager Bullenhuser Damm’. Das war ein großes Schulgebäude im ausgebombten Kinder vom Bullenhuser DammHamburger Stadtteil Rothenburgsort. Die Schule stand leer, sie war bereits geräumt, ein idealer Ort für ein Verbrechen, das man geheim halten wollte. Die Kinder waren schon im Bett, halb neun abends. Sie wurden wieder geweckt. Die SS-Leute sagten ihnen, sie würden jetzt mit einem Flugzeug zu ihren Eltern ins Lager Theresienstadt gebracht. Alle freuten sich und packten ihr Spielzeug ein, das Mitgefangene ihnen gebastelt hatten: Holzautos, Puppen, eine Eisenbahn.

Im großen Postwagen saßen schon sechs Russen, als die Kinder einstiegen und mit ihnen die Pfleger Anton Hölzel und Dirk Deutekom und die beiden Professoren. Zum Schluss drei SS-Männer, sie hatten Stricke bei sich. Vorne beim Fahrer saß der KZ-Arzt Alfred Trzebinski.

In der Schule wurden die Kinder und die Erwachsenen in zwei verschiedene Keller geführt. Der Postwagen fuhr wieder los, um noch eine ‚Fuhre’ Sowjetgefangene zu holen, die ebenfalls umgebracht werden sollten. Dann erschien auch Obersturmführer Arnold Strippel, der die Mordaktion leitete. Im Heizungskeller zogen die SS-Leute über die dicken Rohre die Stricke mit Schlingen an beiden Enden. Dann mussten immer zwei Gefangene zugleich auf eine Bierkiste steigen. Ihnen wurden die Schlingen um den Hals gelegt, und zwei SS-Männer zogen ihnen die Beine weg. Die Erstickenden schlugen um sich, es dauerte sechs bis acht Minuten, ehe sie tot waren. Nach drei Stunden lagen 28 Tote im Keller, darunter auch die Leichen der beiden Franzosen und der beiden Holländer, die die Kinden versorgt hatten. Zur selben Zeit begann auf der anderen Kellerseite die Ermordung der Kinder. Trzebinski schrieb ein Jahr später in seinem Geständnis: „Ich hatte Morphium mit. Ich rief einzeln ein Kind nach dem anderen. Sie legten sich über den Schemel, und ich gab ihnen die Spritze ins Gesäß, wo es am schmerzlosesten ist. Damit die Kinder glaubten, dass es sich wirklich um eine Impfung handelte, habe ich immer wieder eine neue Nadel genommen.“ Der SS-Mann Johann Frahm wurde ungeduldig und begann mit dem Erhängen, obwohl noch Kinder wach waren. Trzebinski: „Frahm nahm den 12-jährigen Jungen auf den Arm und sagte zu den anderen: Er wird jetzt ins Bett gebracht. Er ging mit ihm in einen Raum, der vielleicht sechs bis acht Meter von dem Aufenthaltsraum entfernt war, und dort sah ich schon eine Schlinge an einem Haken. In diese Schlinge hängte Frahm den schlafenden Jungen ein und hängte sich mit seinem ganzen Körpergewicht an den Körper des Jungen, damit die Mahnmahl für die Kinder von HamburgSchlinge sich zuzog. Ich habe in meiner KZ-Zeit schon viel menschliches Leid gesehen und war auch gewissermaßen abgestumpft, aber Kinder erhängt habe ich noch nie gesehen.“ Zwanzig Kinder erhängen dauert lange. Es war schon hell, als die SS-Leute nach oben gingen, um Kaffee zu trinken und Zigaretten zu rauchen. Dann fuhren sie zurück nach Neuengamme. Am nächsten Morgen bekamen sie ihre Belohnung, 20 Zigaretten und einen halben Liter Schnaps. Das gab es nach jeder ‚Aktion’.

Am Abend des 21. April holte Strippel mit dem Postwagen die 48 Leichen ab und brachte sie ins Krematorium von Neuengamme. Der Leiter, SS-Untersturmführer Wilhelm Brake, stöhnte über die viele Arbeit. Mit seinen Gefangenen verstreute er am 22. April die Asche auf den Kohlfeldern rund um das Lager. Zwei Wochen später wurde das KZ von englischen Truppen befreit. Die Gefangenen berichteten, hier seien zwanzig Kinder gewesen und weggebracht worden. Aber keiner wusste, wohin.

Zum Gedenken an die so sinnlos ermordeten Kinder sollen ihre Namen nicht in Vergessenheit geraten:

Mania Altmann, fünf Jahre alt, Polin

Lelka Birnbaum, zwölf Jahre alt, Polin

Sergio De Simone, sieben Jahre alt, Italiener

Surcis Goldinger, elf Jahre alt, Polin

Riwka Herszberg, sieben Jahre alt, Polin

Alexander Hornemann, acht Jahre alt, Niederländer

Eduard Hornemann, zwölf Jahre alt, Niederländer

Marek James, sechs Jahre alt, Pole

Walt Junglieb, zwölf Jahre alt, Jugoslawe

Lea Klygermann, acht Jahre alt, Polin

Georges-André Kohn, zwölf Jahre alt, Franzose

Bluma Mekler, elf Jahre alt, Polin

Jacqueline Morgenstern, zwölf Jahre alt, Französin

Eduard Reichenbaum, zehn Jahre alt, Pole

Marek Steinbaum, zehn Jahre alt, Pole

Hecha Wassermann, acht Jahre alt, Polin

Eleonora Witońska, fünf Jahre alt, Polin

Roman Witoński, sieben Jahre alt, Pole

Roman Zeller, zwölf Jahre alt, Pole

Ruchla Zylberberg, neun Jahre alt, Polin

Zehn Monate später wusste der englische Major Anton Walter Freud genau um den Verbleib der Kinder. Er war ein Enkel von Sigmund Freud und hatte als Mitglied des War Crimes Investigation Team den Arzt Trzebinski festgenommen. Bis auf drei der Täter, Heißmeyer, Klein und Strippel, fand er alle. Sie gestanden. Am 3. Mai 1946 verkündete Oberrichter C. L. Stirling das Urteil des britischen Militärgerichts im Curio-Haus in Hamburg: „Von allen dunklen und grausamen Geschehnissen in der Geschichte der Konzentrationslager war der Tod der Kinder in diesem Keller eines der grausamsten.“ Fast alle Mordbeteiligten wurden zum Tode verurteilt und fünf Monate später in Hameln hingerichtet.

Der Bericht wird morgen fortgesetzt.

Weiterlesen:

➼ Die Kinder der Shoah ✡ Mit ihren Augen gesehen …

➼ Die Kinder von Białystok

➼ Die Säuglinge von Indersdorf • Geboren um zu sterben

darüber hinaus:

➼ “Perfide Medizin” in Auschwitz

➼ Medizinische Versuche im Konzentrationslager Dachau

➼ Die ‚Nürnberger Gesetze’ • Wegbereiter zum Holocaust

Bild 1: Schulgebäude Bullenhuser Damm – Quelle: veddel.net · Bild 2: KZ Neuengamme – Quelle: deanreed.de · Bild 3: pseudomedizinische Kinder-Versuche – Quelle: wikimedia.org · Bild 4: Mahnmal für die Kinder von Hamburg – Quelle: kircheschnelsen.de


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