Zuse zausen für den ethischen Endsieg? Oder: FAZ-Qualitätsjournalismus vs. ZEIT-Gesinnungsgegröle

Dem Perpetuum mobile der Vergangenheitsbewältigung geht die Energie aus: letzte KZ-Schergen sind rar geworden, das Interesse der Massen (wenn es denn je ein solches gegeben haben sollte) ist erlahmt. So kommt es, dass die geistigen Nach-Richter im deutschen Journalismus immer größere Schleppnetze auswerfen müssen, um ihren einschlägig interessierten Redaktionen noch auskömmliche Fänge von Nazi-Verstrickten einliefern zu können.
Es geht um den (mehr oder weniger) Computererfinder Konrad Ernst Otto Zuse; dessen erster computerähnlicher Rechenknecht lief unter der Bezeichnung "Z1". So ist es ganz adäquat, wenn ich hier den Artikel, den Stefan Berkholz am 22.06.10 genau zum 100. Geburtstag von Konrad Zuse in der ZEIT veröffentlicht hat, mit "Z1" (Z2, ein FAZ-Artikel, wird weiter unten gewürdigt werden) nummeriere:
"100 Jahre Konrad Zuse. Tüfteln für den Endsieg. Der Computerpionier Konrad Zuse machte für die Nazis kriegsrelevante Forschung."
Den Untertitel kann man auch schlichter formulieren: Zuse war in der bzw. für die Rüstungsindustrie tätig.
Das kann man aus pazifistischer Perspektive per se für unmoralisch halten, aber darum geht es Berkholz nicht. Er sieht das Verwerfliche von Zuses Handeln darin, dass dieser im Dritten Reich, für die nationalsozialistische Rüstungsindustrie, tätig war, für die Nazis, für Hitler.
Zunächst allerdings berichtet er (in etwa der Hälfte des Artikels) über Zuses biographische Entwicklung und seine erfinderische Leistung. In der 2. Halbzeit erscheint dann endlich der (angesichts des Titels) von uns schon längst erwartete Leibhaftige auf der Szene, wiederum als (Zwischen-)Titelfigur:
"Für die Maschine interessierte sich auch Hitlers Waffenindustrie."
Dann kommen die Vorwürfe, im wesentlichen mehr insinuiert statt ausgesprochen (Dreckschleuderprinzip), teilweise mit rhetorischen Tricks konstruiert, teilweise im Bereich des Lächerlichen einzuordnen.
1935 hat Zuse eine Stelle bei den Henschel-Flugwerken in Berlin-Schönefeld angetreten? "Eine reine Waffenschmiede" wird die Abteilungsleiterin Hadwig Dorsch im Deutschen Technikmuseum Berlin zitiert, und weiter: "Da wurden zum Beispiel Flügelbomben berechnet. Und da kam Zuse auf die Idee, seine Rechner weiterzuentwickeln."
Das Nazi-Regime war zwar schon 1935 nicht das appetitlichste, aber von seinen großen Schandtaten noch ein ganzes Stück entfernt.
Spätgeborene Alleswisser wie Berkholz sind entweder etwas dumpf im Geiste, oder exzellent perfide, wenn sie damals lebenden Personen mit der Feststellung, jemand sein 1935 in einen Rüstungsbetrieb eingetreten, moralisch etwas am Zeug flicken wollen. (Was denn? Mithilfe bei der Vorbereitung eines Angriffskrieges? Dabei hat Deutschland doch sogar in 1939 lediglich "zurückgeschossen" - so jedenfalls mussten es die Menschen glauben, die damals gut abgeschottet gegen echte Informationen unter der Propagandaglocke des Regimes lebten.)
In diesem Kontext kann der Hinweis, dass Zuse die Idee für die Weiterentwicklung (hier ist die Chronologie wirr und der behauptete Kausalzusammenhang nicht überzeugend: 1935 hatte Zuse noch gar keinen Rechner gebaut; der Z1 entstand erst 1938. ) seiner Rechner bei der Mitarbeit an der Entwicklung von Flügelbomben kam, ebenfalls nur als Nadelstich verstanden werden: schön versteckt, denn wenn man das Argument auswickelt, bleibt von moralischer Entrüstung nichts übrig.
Und von der den Lesern unterschwellig untergejubelten Kausalität "ohne Flügelbombenbau hätte Zuse keinen Computer gebaut" auch nicht. Denn auch für andere als militärische Zwecke ist (und war schon damals) ein Bedarf an Rechenhilfen für Ingenieure, Naturwissenschaftler und schließlich auch Kaufleute unmittelbar einsichtig. Zweifelsfrei stand aber natürlich Zuses damalige Rechnerentwicklung ganz konkret im Zusammenhang mit der Rüstungsindustrie; Zuse war kein Pazifist, und ein Nazi-Gegner wohl auch nicht.
(In dem Spiegel-Artikel "Abenteuerliche Geräte aus Altmaterial. Konrad Zuses Konstruktionen fanden in Deutschland wenig Förderer" vom 17.06.1985 erfahren wir über die erste Phase (meine Hervorhebung):
"Zuse hatte eine kurzzeitige Anstellung als Statiker bei den Henschel Flugzeug-Werken aufgegeben und war völlig von seiner Idee besessen." Im übrigen mag es durchaus sein, dass dieser alte Artikel das Interesse deutscher Dienststellen - aber nicht des engeren Führungszirkels! - an Zuses Erfindung unterschätzt wenn es heißt: "Doch die Dienststellen des Nazi-Reichs wußten mit dem ersten Computer der Welt nichts anzufangen. Rüstungsminister Albert Speer soll zwar gemeint haben, diese Erfindung könnte zum "Endsieg" beitragen. Der Führer aber meinte, dazu bräuchte er keine Rechenmaschine.)
Es geht nicht darum, dass ein Autor auf rüstungswirtschaftliche Zusammenhänge (die nach Beginn des 2. Weltkrieges zwangsläufig bestanden haben bzw. die Zuse hergestellen musste, um seine Arbeit unter diesen Bedingungen fortführen zu können) nicht hinweisen dürfte (mehr dazu unten bei meiner Besprechung des Artikels "Z2"). Die Perfidie von Berkholz liegt vielmehr in seiner Verfahrensweise. Gleich im Anschluss an den 'Flügelbombenrechner' geht es bei ihm nämlich in diesem Unterjubelungsstil weiter (meine Hervorhebungen):
"Der Erfinder muss nur wenige Monate im Kriegsdienst verbringen. Im Oktober 1939 unterschreibt ein Freund, der Elektrotechniker Helmut Schreyer, ein Empfehlungsschreiben an die Militärbürokratie. Schreyer war ein Mitglied der NSDAP. Über die »Verwendungsmöglichkeiten« von Zuses geplanter Maschine heißt es in dem Brief zusammenfassend: »Es handelt sich also hier um eine Rechenmaschine, die sowohl bei der Herstellung von militärischen Geräten als auch bei ihrer Anwendung eine wertvolle Hilfe leisten kann.« .....
Das führt dazu, dass Zuse im März 1940 nach Berlin zurückkommt. Und im Mai 1941 hat er sein wichtigstes Ziel erreicht: Nach Jahren intensiver Forschungs- und Bastelarbeit nimmt eine Kommission von fünf Fachleuten die wacklige Konstruktion der Z3 ab. Der Rechner funktioniert bei der Präsentation tadellos. Damit kann Zuse weitere Aufträge aus höchsten Kreisen bekommen. 1941 befindet sich die Welt mitten im Krieg. Im Juni rückt die Wehrmacht gegen die Sowjetunion vor. Zuse darf unbeirrt weiterbasteln, inmitten von Terror und Sirenen.
Anfang 1942 wird Konrad Zuse ein zweites Mal – diesmal bereits nach wenigen Tagen – von der Front zurückgeholt und »uk-gestellt«. Diesmal hilft ihm Werner Osenberg, der Leiter des Reichsforschungsrats. Osenberg war Mitglied der NSDAP und der SS, er sollte den Einfluss des Sicherheitsdienstes auf »kriegsrelevante Forschung« gewährleisten, sagt der Historiker Sören Flachowsky. Bis Kriegsende wurden dafür rund 5000 Wissenschaftler vom Waffendienst freigestellt. Zu dieser Elite zählte auch Zuse.
Fortan ist in Dokumenten von kriegswichtigen Aufträgen die Rede, die Arbeitsergebnisse sowie alle technischen Einzelheiten seien »geheim zu halten«. Zudem werden Zuse bereits im April 1941 Fabrikationsräume in der Kreuzberger Oranienstraße 6 zur Verfügung gestellt. Und in seinen Erinnerungen berichtet Zuse, ihm seien später auch »einige Fremdarbeiter zugeteilt« worden.
Seit Januar 1943 ist die Firma Zuses »kriegswirtschaftlich gesichert«, schreibt der Historiker Hartmut Petzold in seiner Dissertation von 1985. Im Juli 1944 macht Zuse dem Reichsluftfahrtministerium ein Angebot. Im August 1944 erhält er einen weiteren »Kriegsauftrag«. Ein »mathematisches Versuchsgerät« sei zu erstellen, die »Vereinfachung der Eingabe des Rechenschemas in die Rechenmaschine« werde erhofft. Der Auftrag sei »kriegswichtig«, heißt es in Dokumenten, bis zum 31. Januar 1945 sei er zu erfüllen. Und ein weiterer »Kriegsauftrag« (vom Januar 1944) reicht gar bis zum Juni 1945, auch dieser wird als »kriegswichtig« bewertet, »bis zu 25000,- Reichsmark« würden »nach dem Kostenvoranschlag« bereitgestellt. Im November 1944 beantragt Zuse beim Rüstungskommando Berlin die Anerkennung seiner Firma als »Wehrwirtschaftsbetrieb«.
..... Im März 1945 schafft er es, mit der Bahn und später mit einem Lastwagen zunächst aus Berlin heraus und dann durch das zerstörte Deutschland bis ins Allgäu zu gelangen. All dies ebenfalls mit Förderung und Unterstützung aus höchsten Kreisen. »Er war sicherlich kein Widerstandskämpfer«, urteilt der Historiker Petzold, der viele Dokumente aus der NS-Zeit ausgewertet hat, heute. »Er hat seine Erfindung für den deutschen Endsieg eingesetzt, bis in die letzten Kriegstage hinein«.
"
Was soll uns das alles sagen?
Dass seine Arbeit kriegswirtschaftlich interessant war, liegt auf der Hand. Zuse war ein Patriot der offenbar glaubte, mit seinen Aktivitäten im Rüstungsbereich seinem Vaterland zu dienen. Heute wissen wir, dass er - und alle anderen, die ebenso dachten und handelten - dem Land mit Widerstand gegen das Nazi-Regime mehr gedient hätte. Die beiden Hinweis auf Auftrage und Förderung und Unterstützung aus "höchsten Kreisen" sind zum einen übertrieben. Der Leiter des Reichsforschungsrats war natürlich mehr als ein kleines Rädchen im Getriebe, aber ganz oben in den Befehlshierarchien von Partei, Staat und Militär ist auch eine solche Position nicht angesiedelt. Jedenfalls ich als Leser stelle mir unter "höchste Kreise" etwas anderes vor, nämlich (vergleichbar) denjenigen Kreisen, für welche Berkholz den Begriff "höchste" im 1. Absatz der 2. Seite einführt (meine Hervorhebung):
"Im Jubiläumsjahr wird Zuse nun auch von höchster Stelle gewürdigt. Bundesforschungsministerin Annette Schavan sprach zum offiziellen Auftakt des Zuse-Jahrs im April auf einem Symposium des Deutschen Technikmuseums Berlin. [Bundeskanzlerin] Angela Merkel hat sich für Freitag in München angekündigt, um die Zuse-Ausstellung im Deutschen Museum zu eröffnen."
Es ist bezeichnend, dass Berkholz an keiner Stelle einen konkreten moralischen Vorwurf gegen Zuse erhebt; er vertraut gewissermaßen darauf, dass die assoziative Wirkung seiner Darstellungsweise die Drecksarbeit im Gehirn des Lesers erledigt.
Im späteren Text wird allen, die noch immer nicht begriffen haben, was sie von Zuses Connections zu halten haben, noch einmal eingebleut, wobei freilich die "höchsten" Kreise hier im 2. Waschgang schon zu "hohen" eingelaufen sind (meine Hervorhebungen):
"Nach bisheriger Kenntnis [richtig: Zweifel säen - vielleicht war er ja doch ...?] war Konrad Zuse kein Mitglied der NSDAP. Doch er war ein Nutznießer, er konnte auf Protektion und auf Gönner in hohen Kreisen bauen."
"Protektion und Gönner" klingt nach Vetternwirtschaft oder gar Schiebung und Korruption. Zunächst einmal waren halt die führenden Leute damals Nazis; das heißt aber nicht, dass sie sämtlich Idioten gewesen wären. Die innerhalb der damaligen Regimestrukturen Entscheidungsbefugten haben Zuse aus völlig rationalen Erwägungen heraus protegiert; sie erhofften sich von ihm militärisch und/oder wehrwirtschaftlich nutzbare Erfindungen, und es ist durchaus anzunehmen, dass Zuse die Bedeutung seiner Arbeit auch sehr intensiv in diesem Zusammenhang präsentiert hat. Sie haben ganz einfach sein Genie erkannt und genutzt - und Zuse wollte Computer bauen (durchaus glaubhaft auch, dass er sie 'für den Endsieg' bauen wollte). Seine Auftraggeber (und Wehrdienstbefreier) hat er dort gesucht, wo sie nun einmal saßen: hierarchisch und räumlich betrachtet.
An dieser Stelle gleitet der Text von Berkholz dann vollends ins Lächerliche ab, wenn er wiederum einen Gewährsmann aufgabelt, um selbst aus der räumlichen Verortung von Zuses Tätigkeit zur moralischen Keule umzufunktionieren (meine Hervorhebung):
"... der Archivleiter Wilhelm Füßl, der im Deutschen Museum in München den Nachlass Konrad Zuses betreut, unterstreicht sogar die besondere und nicht unbedingt rühmenswerte Bedeutung Berlins für den Computerpionier. Zuse habe, urteilt Füßl, mit seinem Standort Berlin »einen enormen Vorteil« gehabt. Es gab kurze Wege zu Reichsbehörden, die Flugzeugindustrie und das Militär ermöglichten viele Aufträge. »Die militärischen Entwicklungen, die Zuse mit der Gleitflugbombe machte«, sagt Füßl, »waren nur möglich in einem militärischen, vielleicht auch in einem Kriegszusammenhang«."
Abgesehen davon, dass mir die Satzaussage: "militärische Entwicklungen ... waren nur möglich in einem militärischen ... Zusammenhang" schon die Stirn mit Sorgenfalten über den Geisteszustand des Sprechers zerfurcht (das logische Gegenteil - militärische Entwicklungen außerhalb eines militärischen Zusammenhangs - kann ich mir nämlich nicht vorstellen), ist der sachliche Gehalt völlig ungeeignet, die moralisch anklagende Funktion, die dieser Passus im Berkholzschen Textgewebe erfüllen soll, zu tragen.
Wie gesagt: Zuses Arbeit für die Rüstungsindustrie kann man kritisieren. Wenn aber jemand darüber hinaus Konrad Zuse auch noch die (aufgrund seiner örtlichen Bindungen für ihn ganz selbstverständliche) Standortwahl Berlin für seinen Betrieb als moralisch verwerflich ankreidet (im Sinne der juristischen Wendung: "erschwerend (oder: taterschwerend) kommt (noch) hinzu ..."), kann ich den nicht mehr ernst nehmen. Der sucht nicht einmal mehr in den Krümeln: der agiert im Reiche der reinen Agitation. Und wer das derartig ungeschickt tut, dem darf ich legitimer Weise unterstellen, dass er keine wirklichen Trümpfe in der Hand hat.
Interessant ist es, den ZEIT-Text Z1 mit einem am gleichen Tag erschienenen FAZ-Artikel zu vergleichen, den ich als "Z2" bezeichnen will. Ernst Horst hat ihn verfasst und er trägt den Titel "100 Jahre Konrad Zuse. Der Computerpionier als Künstler". Horst handelt die Vorwürfe gegen Zuse in einem einzigen Absatz ab. Unter dem Zwischentitel
"Zuse im Zweiten Weltkrieg"
erfahren wir (meine Hervorhebungen):
"Gleich am Anfang möchte ich etwas abarbeiten, was die Sensationspresse [zu der wir also in dieser Hinsicht auch die ZEIT rechnen müssen] natürlich besonders interessiert hat. War Zuse in die Verbrechen des Nationalsozialismus verstrickt? Er arbeitete in der Rüstungsindustrie am Bombenbau mit. Er versuchte, seine Computer als Hilfsmittel zur „systematischen Rassenforschung“ zu verkaufen. Mit dem Ausgang des Kriegs war er zeitlebens unzufrieden. Parteimitglied war er nicht, wohl aber gute Freunde und nahe Verwandte. Er verehrte den Geschichtsphilosophen Oswald Spengler. So war es. Wer will, darf die Steine auf ihn werfen, die er verdient hat, aber es gibt auch anderes zu berichten."
Dass gute Freunde und nahe Verwandte Mitglieder der NSDAP waren, ist Zuse nicht anzulasten. Was die Verehrung für Oswald Spengler angeht: die mögen viele Nazis geteilt haben, aber Spengler war in der Nazi-Zeit binnen kurzem zur persona no grata geworden und die Besprechung seiner Werke in den Zeitungen untersagt. Auch Spengler selbst war - nach anfänglichem Interesse - sehr schnell auf Distanz zu den Nationalsozialisten gegangen.
Die eigentliche Brisanz dagegen liegt in den beiden von mir zitierten Sätzen - oder eigentlich nur in dem zweiten.
Denn "Rasseforschung" klingt, wenn mit dem Nationalsozialismus in Verbindung gebracht, in unseren Ohren sofort noch Holocaust. Aber genetische Forschungen werden ja auch heute betrieben und haben teilweise etwas mit "Rasse" zu tun. (Wer's nicht glaubt, lese in der Süddeutschen vom 04.06.10 den Bericht "Genforschung. Ahnen aus Judäa" von Christian Weber). Dass Zuse Antisemit war, ist wohl eher unwahrscheinlich: entsprechende Nachweise / Zitate hätten sich die Medien kaum entgehen lassen.
Und wer es ihm als Techniker zum Vorwurf machen will, dass er den Biologen ein Hilfsmittel für die damals für wichtig gehaltene Rasseforschung zur Verfügung stellen wollte müsste sich fragen lassen, ob er Angst vor den Ergebnissen hat.
Dass die Rasseforschung damals eine Pseudowissenschaft war, kann man nicht Zuse zum Vorwurf machen. Weit ausgreifend könnte man sogar darüber spekulieren, dass die Computerisierung der Rasseforschung diese in ihrer damaligen Form mit ziemlicher Sicherheit ad absurdum geführt hätte, d. h. Zuses Idee hätte letztlich einen subversiven Charakter gehabt (wobei natürlich nicht anzunehmen ist, dass Zuse selbst in diese Richtung gedacht hat). Denn schließlich könnte eine ergebnissoffene Forschung ja auch die Gleichwertigkeit der Rassen feststellen: der Computer als solcher ist jedenfalls kein Rassist. Natürlich kann auch ein solches Gerät für rassistische Zwecke missbraucht werden - aber das kann auch jeder Stein und jeder Strick.
Wirklich bedenklich ist Horsts Feststellung dass Zuse "Mit dem Ausgang des Kriegs ... zeitlebens unzufrieden" war. Hier schützt Zuse kein Unwissen mehr; wenn er sich wirklich noch nach Kriegsende und nach Bekanntwerden der Naziverbrechen gewünscht hat, dass Deutschland - also Hitler, die Nazis - den Krieg gewonnen hätten, dann ist das wirklich moralisch nicht mehr zu billigen.
Um aber zur Perspektive des Vergleichs der beiden Aufsätze zurück zu kehren: Während Horst den moralischen Einwänden äußerlich wenig Gewicht einräumt und sie mit dem Satz "Wer will, darf die Steine auf ihn werfen, die er verdient hat, aber es gibt auch anderes zu berichten" im Ergebnis nonchalant zur Seite wischt, übertrifft inhaltlich das Gewicht seines Vorwurfs in die ganzen langatmigen, konstruiert und aufgebauscht wirkenden "Vorwürfe" in dem Aufsatz von Berkholz um ein Vielfaches.
Abgesehen davon, dass der Horst-Text denjenigen von Berkholz auch sonst qualitativ weit überragt, bietet er selbst innerhalb der ohnehin knappen 'Moral-Passage' in nur einem einzigen Satz mehr an kritischer Substanz als Berkholz in einem ganzen halben Artikel.
Lächelnd ("tongue in cheek") könnte man sagen, dass Horsts Beitrag die alte preußische Forderung nach "mehr sein als scheinen" beherzigt.
Der ZEIT-Artikel, der sozusagen auf der 2. Schiene die intellektuelle Leistung von Zuse durchaus angemessen würdigt, schließt mit den Sätzen:
"Es war Zuses Tragik, zur falschen Zeit eine bahnbrechende Erfindung gemacht zu haben. Will man ihn aber heute zum blütenweißen Vorzeigedeutschen machen, dann nimmt man es mit der Geschichte nicht so genau."
Wer will denn Zuse zu einem blütenweißen Vorzeigedeutschen machen? Ich gewiss nicht, und Ernst Horst - s. o. - auch nicht.
Aber Berkholz will ihn offenbar zum Schattenhelden herabstufen. Das Material, was er dafür gefischt hat, trägt indes eine derartige Degradierung nicht, und die Art seiner Präsentation wirft mehr Schatten auf seine eigene intellektuelle Redlichkeit als auf die moralische Position von Konrad Zuse.
Ausgesprochen reißerisch ist ein Beitrag von Hilmar Schmundt auf Spiegel Online vom 14.06.10 (immerhin: im Gegensatz zur "ZEIT" hat SPON immerhin noch soviel Pietät, diesen Artikel nicht genau am 100. Geburtstag zu veröffentlichen!):
"Rassenforschung am Rechner".
Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass auch diese Information von dem Archivleiter Wilhelm Füßl stammt, dem wir oben schon im Zusammenhang mit dem sinnfreien Statement über 'militärische Entwicklungen, die nur in militärischen Zusammenhängen möglich sind', und der 'strafverschärfend' Kritik an Zuses Firmenansiedlung in Berlin begegnet sind. Und was hat es auf sich mit der Rasseforschung mittels Zuse-Rechner?
Herzlich wenig:
"Zuse argumentiert immer wieder nahe an nationalsozialistischen Ideologien", sagt Füßl. Er kramt ein grünes Zettelchen hervor, das noch für Aufsehen sorgen dürfte. Es ist eng beschrieben mit stenografischen Notizen aus dem Jahr 1942: Zuse erwägt darin, die "Verwandtschaftsbeziehungen von zwei beliebigen Menschen A, B zu berechnen" - unter anderem für die "Ahnenforschung" sowie die "Systematische Rassenforschung".
Weshalb der Autor von einer solche Notiz behauptet, dass sie "noch für Aufsehen sorgen" werde, ist mir schleierhaft (bzw. auch wieder nicht: das ist ganz einfach Sensationsmache im Stil der Überschrift). Was die Computer heute so alles berechnen, lässt sich, z. B., in dem oben aufgeführten Artikel über die enge genetische Verwandtschaft der Juden untereinander nachlesen.
Dass Zuse nicht gerade ein Musterdemokrat war (das waren, außer den Nazis, auch die Kommunisten nicht), und vielleicht sogar ein Nationalist, mag schon sein. Und dass damals Nationalismus und Nationalsozialismus in enger Symbiose lebten (aber nicht identisch waren: auch Oswald Spengler war Nationalist, aber definitiv kein Nazi!) ist auch nicht zu leugnen.
Für dramatische "Verstrickungen" von Zuse in die nationalsozialistischen Untaten geben solche Erkenntnisse allerdings wenig her. In der Gesamtschau geht denn auch der Aufsatz von Hilmar Schmundt sehr viel fairer mit Zuse um, als der ZEIT-Eiferer Berkholz.

Nicht "Zuse ans Kreuz zu nageln, [sondern] den Mensch hinter der Maschine und dem selbstgestrickten Mythos [zu] verstehen" wird Wilhelm Füßl, Leiter des Archivs am Deutschen Museum in München, in dem SPON-Artikel zitiert.
Also dann: wer dem Menschen Zuse ein klein wenig persönlich begegnen will, der lese das SPIEGEL Gespräch "Wir gehen einen gefährlichen Weg. Rechner-Erfinder Konrad Zuse über Computer und die Angst der Menschen vor der Technik" vom 17.06.1985 (mit J. Preuß und Schmidt-Klingenberg).
Wobei mir zwei "philosophische" Äußerungen interessanter erscheinen als seine Aussagen für und gegen die technische Entwicklung:
"Vielleicht liegt es gar nicht mal in der Hand der Menschen zu entscheiden, wie die Dinge sich entwickeln. Wir glauben immer, soviel Freiheit zu haben, daß wir dieses tun und jenes lassen können. Tatsächlich ist das gar nicht so." Und
"Ich habe wenig Hoffnung, daß wir Menschen gewisse allgemeine Linien der Entwicklung wirklich beeinflussen können."
Aufschlussreich auf der Faktenebene war für mich auch seine Begründung, weshalb er (jedenfalls in der Zeit, als er noch Chef seiner Firma war) die Malerei unter einem Pseudonym betrieben hat:
"Um 1962 herum habe ich wieder angefangen zu malen. Ich habe das aber absichtlich geheimgehalten und das Pseudonym Kuno See gewählt, weil ich genau wußte, daß man es mir übelnehmen könnte, wenn ich male.
SPIEGEL: Warum das?
ZUSE: Seien Sie mal Chef einer Firma und bekommen Sie mal täglich Anrufe: Wann ist unsere Maschine endlich fertig?
SPIEGEL: Das Malen war schlecht fürs Geschäft?
ZUSE: Lassen Sie bitte das Malen, heißt es dann, obgleich das nichts miteinander zu tun hatte.
"
Wer sich relativ gründlich über Zuses Arbeit informieren will (ich werde das anhand des ausgedruckten Textes für mich noch tun), dem bietet die Webseite der Zeitschrift "Spektrum der Wissenschaft" die Möglichkeit, einen sehr langen (13 S. in meinem Ausdruck) Artikel vom 01.01.1997 online zu lesen: "Wege und Irrwege des Konrad Zuse" von Jürgen Alex.
(Das Heft Juli 2010 von Spektrum der Wissenschaft enthält den Artikel "WISSENSCHAFTSGESCHICHTE. Konrad Zuses wissenschaftliches Werk. Andreas Nestke über 'Zur Entstehung des Computers - Von Alfred Tarski zu Konrad Zuse' von Jürgen Alex". Offenbar handelt es sich um eine Buchrezension; online ist davon jedoch nur der Anfang kostenfrei einsehbar.)
Nachtrag 26.06.2010
Bei der Nachverfolgung von Suchzugriffen stoße ich auf die Webseite "100 Jahre Konrad Zuse – Einblicke in seinen Nachlass" des Deutschen Museums in München. Zum Thema Zuse und die Nazi-Zeit heißt es dort:
Nationalsozialismus
"In seinem Bemühen, leistungsfähigere Rechenanlagen für unterschiedliche Anwendungen zu bauen, machte Zuse immer mehr Zugeständnisse an den NS-Staat. Aus dem unabhängigen Erfinder wurde ein von den Aufträgen der Rüstungsforschung und -industrie abhängiger Unternehmer. Aber auch von sich aus entwickelte er Vorschläge zum Einsatz von Rechnern für die Optimierung von Gleitbomben und für rassenpolitische Maßnahmen. Umgekehrt wurden seine Arbeiten zunehmend als Teil kriegswichtiger Entwicklungen verstanden und gefördert."
Die Formulierung "machte Zuse immer mehr Zugeständnisse an den NS-Staat" dürfte Quatsch sein. Zuse hat - wie Millionen anderer Deutscher - diesen Staat wohl kaum abgelehnt. Er brauchte also auch keine "Zugeständnisse" an ihn zu machen, sondern durfte - aus seiner damaligen Perspektive legitim - für das nationalsozialistische Deutschland und für dessen Rüstungswirtschaft (und für den "Endsieg") arbeiten.
Die ominöse Formulierung "rassenpolitische Maßnahmen" kann ich ohne Kenntnis der Einzelheiten naturgemäß nur insoweit kommentieren, als ich aus den Presseartikeln den Eindruck gewonnen hatte, dass Zuse den Rechnereinsatz für die Rasseforschung vorgeschlagen habe. Das ist natürlich ein gewaltiger Unterschied. Jedenfalls hätte man sich auch auf der Webseite eine Spezifikation der Angabe "rassenpolitische Maßnahmen" gewünscht. Auch die Judendeportationen gehören zu diesen Maßnahmen (bzw. die sogar in erster Linie), so dass der unbefangene Leser sich unmittelbar fragen wird: Hat Zuse den Nazis seine Computer für die Erstellung von Deportationslisten angedient? Das nun sicherlich nicht, denn wenn es so wäre, hätten sich die antifaschistischen Phantomfighter unserer Tage das sicherlich nicht entgehen lassen. Also: worum ging es genau?
Auch gelesen haben sollte, wer sich für Zuse interessiert, den Bericht "Konrad Zuse: Scharlatan oder Mitläufer?" auf "Heise online" (20.06.10).
Wiederum andere Aspekte beleuchten einige (eher kurze) Berichte des Hessischen Rundfunks:
"Zuse und der Krieg" (20.06.10) ist ein Interview mit dem (vom Hessischen Schundfunk als "Zuse-Historiker" bezeichneten) Archivleiter Dr. Wilhelm Füßl.
Der erscheint als dieser Stelle als ein um Objektivität bemühter Forscher:
"Es wäre aber falsch zu sagen, Zuse habe seine Autobiografie nur geschönt. Vieles hat er zumindest andeutungsweise angesprochen, so z.B. den Einsatz von Kriegsgefangenen in seiner kleinen Berliner Firma."
Was es mit Zuses Beziehung zu Oswald Spengler auf sich hat, erfarhen wir hier:
"Zuse hat Oswald Spengler einmal als seinen Lieblingsautoren bezeichnet hat, der ihn und Mitstudenten "nachhaltig" beeinflusst habe. 1984 hatte er ein Exemplar der Zweitauflage der Autobiografie dem damaligen Kanzler Helmut Kohl gewidmet und ein Spengler-Zitat vorangestellt. Im Buch schrieb er: "Noch heute halte ich Spengler nicht für einen der geistigen Väter des Nationalsozialismus".
Und? Was bedeutet das für die Bewertung? Ist es ein Zeichen für Verstocktheit, wenn man Spengler nicht für einen der geistigen Väter der Nazis hält?
Aus dem Text "Überspannter Erfinder, abgeklärter Philosoph" wird mir (als Korrektiv zu den anders beurteilenden sonstigen Artikel) in Erinnerung bleiben:
"Auch Zuses berühmter Satz, er habe den Computer erfunden, weil er zu faul zum Rechnen gewesen sei, ist eher Ausdruck von Zuses Humor als Beschreibung seines Charakters."
Und hier noch ein Bericht.
Nachtrag 28.06.2010
Recht objektiv und sehr informativ, ohne gewichtige moralisierende Wertungen in Sachen 'Nazi-Verstrickung' äußert sich der Archivar in einem Interview mit merkur.tv vom ? (ohne Datumsangabe - eine Unsitte! Jedenfalls wohl aus diesem Jahr):
"Als Ingenieur suchte Konrad Zuse die Anwendung! Dr. Wilhelm Füßl über die Arbeit des Computererfinders Konrad Zuse im Zweiten Weltkrieg und die Rettung seiner Z4 aus Berlin."
Nachtrag 04.07.10
In Rückverfolgung eines Suchzugriffs auf meine Webseite finde ich heute den Artikel "Zuse und das Nazi-Regime: Kritik an Spiegel-Artikel" von Victoria Bott in der Hünfelder Zeitung vom 30.06.2010. Es ist sozusagen das 'Heimatblatt' von Konrad Zuse, der zuletzt ja in Hünfeld gelebt hat (wo ich ihn vor langen langen Jahren, ich glaube bei der Verbrauchermesse Osthessenschau, auch einmal von weitem gesehen habe) und dort gestorben ist. Auszüge aus dem Artikel:
"Als „reißerisch“ bezeichnet Professor Horst Zuse den Artikel über seinen Vater. „Mein Vater war kein Widerstandskämpfer, er ist aber auch nicht mitmarschiert“, betont der Berliner. Der Erfinder sei auch kein NSDAP-Mitglied gewesen. „Es ist bekannt, dass mein Vater für einen Rüstungsbetrieb tätig war. Das ist nicht neu“, sagt er. Aus seiner Vergangenheit habe der Computererfinder kein Geheimnis gemacht, auch nicht in seiner Autobiografie. Er habe nichts beschönigt und nicht an einem sauberen Bild gearbeitet, wie es Wilhelm Füßl, Leiter des Archivs am Deutschen Museum, dem Computerpionier in dem Artikel vorwirft. ..... Außer Frage stehe ..., dass ihm seine Fähigkeiten in der NS-Zeit Privilegien verschafften: Er wurde als „unabkömmlich“ eingestuft, musste nicht an die Ostfront und konnte stattdessen tüfteln. Bis Kriegsende wurden etwa 5000 Wissenschaftler vom Waffendienst freigestellt. Zuse hebt hervor, dass man seinen Vater deshalb nicht als Nazi bezeichnen könne.
„Der Artikel weckt völlig falsche Assoziationen“, erklärt Hadwig Dorsch, Abteilungsleiterin Rechen- und Automationstechnik im Deutschen Technikmuseum in Berlin. Die Überschrift „Rassenforschung am Rechner“ erwecke den Eindruck, dass mit Zuse-Rechnern Rassenforschung betrieben wurde. Das sei nicht der Fall.
Doch was sagen die angeführten Dokumente tatsächlich aus? „Es ist nicht verwunderlich, wenn ein Student am Ende der Weimarer Republik schreibt, dass er nicht mehr an eine parlamentarische Demokratie glaubt. Er spricht hier aus, was leider die Mehrzahl der Deutschen dachte und was letztlich zum Nationalsozialismus geführt hat“, erklärt Dorsch. Auch Zuses Gedanken über die mögliche Berechenbarkeit von Verwandtschaftsbeziehung würden nichts über seine politische Haltung aussagen. Die „systematische Rassenforschung“ sei bereits 1915 eine anerkannte Wissenschaft gewesen.
"
Textstand vom 11.07.2010. Auf meiner Webseite
http://www.beltwild.de/drusenreich_eins.htm
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