Sahra Wagenknecht und Ludwig Erhard.
Das ist ein Paar, auf das man nicht einfach so käme. Da muss die gute Sahra Wagenknecht schon Wahnsinn mit Methode anwenden und ein neues Buch schreiben. Was da heißt: „Freiheit statt Kapitalismus.“ Der Jungen Welt hat es nicht so gut gefallen. Den Nachdenkseiten wiederum hat nicht gefallen, dass es der Marxistenpostille nicht so gut gefallen hat. Was darauf schließen lässt, dass ich mir die Lektüre sparen kann. Trotzdem kam ich nicht umhin, mir ein paar Gedanken dazu zu denken.
Georg Fülberth schreibt in der jw, dass zwar kaum Neues und nichts Falsches in dem Buch stände, aber viel Vernünftiges. Und es ist ja nun wirklich nicht falsch, wenn Wagenknecht schreibt, dass die Leistungsgesellschaft zwar viel beschworen werde, unter den herrschenden Zuständen nur ein Mythos sei und dass kaum mehr als ein Prozent der Bevölkerung die ganz großen Vermögen kontrolliere. Und dass die hochkonzentrierte Finanzindustrie unter einem Mangel an Produktivität leide und somit zum Mühlstein um den Hals der Realwirtschaft mutiert sei, die einfach nicht in Neues, in Grüneres investieren kann und will, wenn da nicht ordentlich Rendite drin ist – und die ist nur drin, wenn die Massen so weit verarmt werden, dass „die Durchsetzung unter demokratischen Bedingungen fraglich“ sei.
Und dann listet Fülberth auch noch die ganzen guten Ideen auf, die Wagenknecht ausführt, wie man diese doch sehr unerfreulichen Zustände ändern könne, etwa wie eine neue Eigentumsordnung aussehen sollte, wie die Rente gesichert werden kann, und wie man mit einer Art Sanierungsabgabe für die ganz Reichen die ganzen faulen Kredite los wird, die eine Verstaatlichung von Banken und wichtigen Konzernen mit sich bringt, die an sich natürlich wichtig und richtig ist.
Somit hat Albrecht Müller von den Nachdenkseiten durchaus recht, wenn er meint, dass man aus dem Buch doch viel lernen könne, sofern man sich von der Verwendung des Begriffs „Kapitalismus“, die Sahra Wagenknecht sich leider noch immer nicht versage, nicht zu sehr abgestoßen fühle. Und er freut sich, dass Wagenknecht „ehrliche Verfechter der Marktwirtschaft“ bei der Vorstellung abholt, dass die RICHTIGE marktwirtschaftliche Ordnung schon funktionieren könne, wenn mit den knappen Ressourcen sorgfältig und kreativ umgegangen werde. Und hier kommt dann auch der Ludwig-Erhard-Spruch „Wohlstand für alle“, der aber nie Programm war, sondern lediglich eine populäre Forderung des Marketingexperten Erhards, die Wagenknecht aufgreift, um Leute wie Albrecht Müller ins Boot zu holen.
Denn die immer wieder nostalgisch verklärte soziale Marktwirtschaft mit ihrem „Wohlstand für alle“ hat es nie gegeben. Sie war nur ein netter neuer Begriff für den hässlichen Kapitalismus, der durch den gerade erlittenen Krieg bei den einfachen Leuten zwar in Ungnade gefallen war, aber natürlich gleich wieder fest installiert werden musste, um zu verhindern, dass es zu einem echten Systemwechsel kam, wie es im Osten der Fall war. Und das war auch Ludwig Erhard klar – obwohl er natürlich nichts dagegen hatte, wenn die Leute diesen falschen Begriff für den wunderbaren Wohlstandschub benutzen, den sie mit viel Arbeit und Selbstausbeutung tatsächlich zusammengeschuftet haben.
Brosamen statt Umverteilung
Ende der 50er, Anfang der 60er, bis in die 70er hinein verzeichnete die deutsche Wirtschaft dermaßen atemberaubende Produktivitätssprünge, dass von dem rasant wachsenden Vermögen der Besitzenden tatsächlich auch etwas bei der breiten Masse ankam. Das war aber keineswegs die angeblich früher so viel besser funktionierende Umverteilung, sondern Brosamen, die vom Tisch der Reichen fielen, weil einfach so viel drauf lag. Im Gegenteil verteilte gerade Ludwig Erhard mit der Währungsreform von 1948 die Sparguthaben der kleinen Leute zugunsten der Besitzer der Produktionsmittel um, die diese selbstverständlich behalten durften. Es war nämlich keineswegs so, dass alle (West-)Deutschen mit einem Kopfgeld 40 Mark an den Start gingen und es dann je nach Geschick mehr oder weniger weit damit brachten. Wer eine beispielsweise Fabrik hatte und nicht allzusehr als böser Nazi aufgefallen war, durfte diese selbstverständlich behalten und weiterhin Arbeiter ausbeuten.
Mittlerweile geht man sogar so weit, diesen Massenwohlstand der ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer wundersamen und einmaligen Entartung des Kapitalismus zu erklären – was dieses Phänomen tatsächlich ganz gut beschreibt. Denn darauf angelegt, dass es den Massen gut geht, war und ist dieses Wirtschaftssystem keineswegs. Genau das müssen die Leute, die nun der sozialen Marktwirtschaft hinterher heulen, endlich begreifen. Sozial war die Marktwirtschaft nämlich nie.
Sie kann es gar nicht sein. Denn in einer Marktwirtschaft geht es nie um den Wohlstand aller oder gar um eine gerechte Verteilung angeblich knapper Güter. Auch wenn das so in deutschen Schulbüchern steht. Sondern es geht darum, den Leuten auf dem Markt Dinge anzudrehen und damit Geld zu verdienen. Das ist, ganz nebenbei, auch die Erklärung dafür, warum es keinen grünen Kapitalismus geben kann. Solange das System auf Geld bzw. dem Zwang zum Gelderwerb beruht, weil nur Geld den Zugriff auf Güter ermöglicht, von denen die Leute ausgeschlossen sind, weil sie anderen gehören, solange werden die Leute danach trachten, Geld zu verdienen. Mit allen negativen Folgen, die jetzt schon in ungeheurer Fülle zu betrachten sind.
Das System funktioniert einfach
Insofern ist es immerhin schon was, wenn Albrecht Müller sagt, dass Wagenknechts Buch dazu anstoßen würde, über die Systemfrage noch einmal nachzudenken. Wenn man dazu bereit ist, sollte man aber auch bereit sein, sich das System, in dem wir jetzt zu leben gezwungen sind, einmal genau anzusehen. Und bei aller Abneigung gegen den Begriff Kapitalismus auch ertragen, dass dieses hässliche Ding, das eine Krise nach der anderen gebiert und ganz offensichtlich nicht menschenfreundlich oder gar naturverträglich ist, nun einmal ein Kapitalismus ist. Trotz aller Demokratie und Grundrechte und was man an erhabenen Dingen mehr erfindet, um ihn aushaltbarer zu machen.
Und es braucht keine verschworene Gruppe aus Finanzwirtschaft, Wissenschaft und Politik, die uns mit falschen Informationen füttert, um die Zustände so schrecklich zu machen wie sie sind. Sie sind auch ohne Wirtschaftsverbrecher, korrupte Politiker und Meinungsmafia so schrecklich. Dass die einen immer ärmer werden und die anderen immer reicher ist keine Entgleisung des Systems, sondern sein Inhalt. Auch die ehrlichsten und wohlmeinendsten Vertreter von Wirtschaft und Politik könnten das nicht verhindern. Kapitalismus funktioniert genau so.
Gerade die Finanzkrise zeigt doch, wie gut das System funktioniert: Ein paar findige Köpfe in der Finanzwirtschaft denken sich immer neue Produkte aus, mit denen sie aus Geld sehr viel mehr Geld machen können und verdienen sich dumm und dämlich, was ja auch okay geht, denn produktiv sind sie ja, wenn auch nur nach Zahlen – aber so lange durchgesetzt werden kann, dass Schulden bedient werden, sind diese Zahlen eben nicht nur Zahlen, sondern Zugriffsmacht auf den vorhandenen Reichtum. Und wenn dann in der Welt der real existierenden Anstrengung diese Zahlen am Ende nur noch auf einem Papier stehen, das der unglückliche Besitzer gerade nicht mehr in realen Reichtum umtauschen kann, dann hat er halt Pech gehabt. Wie die Oma bei der Währungsreform, bei der ihre unter Opfern zurückgelegten Notgroschen mal eben pulverisiert wurden.
Erpressbar sind wir, weil wir von dem Reichtum, den ein paar andere besitzen, ausgeschlossen sind, und nicht, weil uns Politiker und Journalisten dummes Zeug erzählen. Problematisch wird es, wenn die Leute glauben, dass es Politiker gibt, die kein dummes Zeug über soziale Marktwirtschaft reden. Auch die sozialste Marktwirtschaft ist kein Ponyhof, wo jeder mal eine Runde reiten darf. Wer wirklich Wohlstand für alle will, muss sich vom Kapitalismus ein für alle mal verabschieden. Erst recht, wenn man schon den Begriff so hässlich findet, dass man ihn nicht benutzen mag.
Kapitalismus braucht Freiheit
Das bringt mich zum genauso schillernd-verklärten Begriff der Freiheit. Freiheit statt Kapitalismus überschreibt Sahra Wagenknecht ihr Buch. Dabei sind Freiheit und Kapitalismus kein Gegensatz, auch wenn Wagenknecht gern so tun möchte. Denn Freiheit braucht es nur im Kapitalismus. Wenn jeder so frei ist, seine Haut auf den Markt zu tragen und sich dort zur Vermehrung von Eigentum, das ihm nicht selbst gehört zu verdingen – dann haben wir Kapitalismus. Selbst wenn man ihn lieber soziale oder neoliberale oder sonstirgendwie Marktwirtschaft nennen möchte – er braucht freie Individuen, die danach trachten, sich irgendwie durchzuschlagen.
Vom Kapitalismus, vom Markt, vom Zwang zum Geldverdienen befreite Menschen brauchen Freiheit als unerreichbares Ideal nicht mehr. Sie wären dann nämlich wirklich frei, zu tun, was zu tun ist, um allen Menschen ein angenehmes Leben zu ermöglichen. Natürlich kann auch in einer Welt, in der jeder freien Zugang zu den Dingen hätte, die man so zum Leben braucht, nicht jeder machen, was er will. Aber es wäre auch nicht mehr nötig, den Leuten einzureden, dass es nur auf ihren freien Willen ankäme, mit dem sie bitteschön erfolgreich sein sollen, auch wenn sämtliche Umstände gegen sie sind. Nichts anderes als das ist Freiheit.