Gesetze, Normen, Moralvorstellungen – Wir müssen über unsere Freiheit sprechen
Als ob es nicht schon anstrengend genug wäre. Ständig muss man sich für oder gegen etwas entscheiden. Bis zu 100.000 Entscheidungen trifft ein Mensch angeblich pro Tag, zumeist hilft uns dabei die Intuition. Barry Schwartz hat einmal einen herausragenden TED Talk über The Paradox of Choice gehalten.
Was bei all den vermeintlichen Wahlmöglichkeiten auf der Strecke bleibt, ist nichts anderes als unsere Freiheit. Denn sie ist eine Illusion, wenn man sich ihr im Detail nähert; dann wird sie plötzlich sehr oberflächlich und brüchig.
„Freiheit ist der Zustand der Unabhängigkeit von fremden Einwirkungen und der Möglichkeit der Selbstbestimmung”. Was sehr modern klingt, stammt aus dem Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon von 1838. Und seither haben sich die fremden Einwirkungen explosionsartig vermehrt, während es mit der Möglichkeit zur Selbstbestimmung bei genauerer Betrachtung gar nicht mehr so weit her ist.
Wir leben in Deutschland in einem der wohl freiesten Länder weltweit, möchte man meinen. Verschiedenste Organisationen und Institute messen regelmäßig die unterschiedlichsten Freiheitsindizes, und in der Regel schneidet unser Land dabei im Vergleich recht gut ab. Was dabei aber übersehen wird: Wo bleibt die Freiheit, wenn sich einerseits die Wahlmöglichkeiten potenzieren und andererseits gesellschaftliche Normen zum Haupthindernis werden? Ein paar Beispiele gefällig?
Nehmen wir die Diskussion um die Rolle von Müttern und vereinfachen wir diese: Macht eine Frau Karriere, droht ihr das Attribut der „Rabenmutter”, entscheidet sie sich für Zeit mit ihren Kindern, wirft man ihr mangelnden Ehrgeiz und Karrierewillen vor und verunglimpft sie obendrein noch via „Herdprämie”.
Rauchen ist ein großes gesundheitliches Risiko, das ist allgemein bekannt. Früher ereilte die bedauernswerten Raucher der Krebstod, heute ist selbst das Rauchen in den eigenen vier Wänden Allgemeininteresse geworden – und wird gerichtlich sanktioniert.
Meine Eltern verfuhren in Sachen Erziehung nach eigenem Wertegefühl, was mal besser und mal schlechter, insgesamt jedoch recht passabel funktionierte. Heute sind Helikopter-Eltern beinahe sprichwörtlich. Warum? Weil das gesellschaftliche Korrektiv keine Angebote macht, sondern Normen durchsetzt.
Nie zuvor gab es ein so breites Angebot an Ausbildungs- und Studienmöglichkeiten. Doch hinter der bildungspolitischen Auswahltheke lauern G8 und Bachelor. Weil der Staat keineswegs möchte, dass junge Individuen sich ein Studium generale gönnen, sondern weil das System nach Effizienz verlangt um das (alternativlose?) Ziel des quantitativen Wachstums erfüllt zu sehen.
Aber nicht nur in den großen Themen spiegelt sich der Freiheitsverlust, auch ganz banale Alltagssituationen geraten zum permanenten Statement. Zähneputzen mit der Zahnbürste? Auf keinen Fall, elektrisches Putzgerät, dazu Zahnseide und Mundspülung – nur dann ist es auch perfekt.
In der Mode ist der individuelle Kleidungsstil längst zur Farce geworden. Fashion ist Uniform, Stil der verzweifelte Versuch dazuzugehören. Riesige Industrien leben genau davon, dass Shopping Ersatzbefriedigung geworden ist. Ersatz wovon eigentlich?
Im Kindergarten hielten wir uns seinerzeit an den Händen und vermieden durch Zweierreihe allzu gefährliche Situationen im Straßenverkehr. Heute wird beinahe jede Kita- oder Kiga-Gruppe im Bollerwagen umherkutschiert, selbstverständlich inklusive einheitlicher Warnwesten am Kinderkörper. Und wenn es ans Radfahren oder Skifahren geht: ohne Helm? Das ist ja verantwortungslos!
Essen, was ich will und was mir schmeckt? Ist schon möglich, aber akzeptiert wird das u.U. nicht wirklich. Und es reicht längst nicht mehr sich ab und zu vegetarisch zu ernähren. Vegan soll es sein, oder Paleo, mindestens aber gluten- oder laktosefrei. Obst? Früher tat es ein Apfel, heute lautet die (als Motto getarnte) Norm: five a day!
Geräte aus dem Bereich Quantified Self zählen für uns Kalorien und Cholesterin, und Runtastic und Co. jagen unser mehr oder weniger ambitioniertes Gehechel und Geschwitze in die Timelines unserer zahlreichen Netzfreunde. Big Brother is… kicking your ass! Sind wir denn bekloppt geworden?
Ja, ich bin polemisch. Aber nur, um das Prinzip zu verdeutlichen, das da größtenteils unbemerkt einsickert. Zum Leben gehört auch ein gewisses Maß an Unvernunft und Risiko. Selbstverständlich ist es eine gute Sache Kinder mit einem Fahrradhelm auszustatten. Aber es sei die Frage erlaubt, ob wir bei aller Vorsicht und Effizienz nicht vergessen haben ein paar Freiräume für Individualität und Unvernunft übrig zu lassen.
So. Und ich gehe jetzt runter und werfe den Plastikabfall in die Restmülltonne. Danach gehe ich über eine rote Ampel, sofern genügend Kinder zusehen, und am Abend werfe ich den Kohlegrill auf meinem Balkon an. „Viva la Revolución!” Ach, ich muss ja noch einen Termin für die Zahnreinigung machen, der letzte liegt schon ein halbes Jahr zurück.