Widersprüche sind gut

Europa von Australien aus gesehen

Klein & handlich: Europa von Australien aus gesehen

Wahrscheinlich muss man schon Australier sein, um die Geschichte Europas erfolgreich auf fünfzig Buchseiten zusammenzuschrumpfen.

John Hirst von der Uni Melbourne hat das kürzlich getan: das Ergebnis heißt „Die kürzeste Geschichte Europas“ und ist trotz – oder gerade wegen – seines geringen Umfangs äußerst bemerkenswert.

Aus australischer Sicht schrumpeln Europas Ursprünge zu drei Grundmomenten zusammen: 1. die griechische und römische Gelehrsamkeit („Die Welt ist einfach, logisch und mathematisch“), 2. das Christentum („Die Welt ist böse; nur Christus kann uns retten“), 3. das germanische Kriegertum („Kämpfen macht Spaß“).

Der entscheidende Punkt dabei: die drei Momente widersprechen sich.

Die Kirche bewahrt und kopiert die Schriften der Antike, obwohl diese von weltfreudigen Heiden verfasst wurden. Die germanischen Krieger unterstützen die Kirche, obwohl das Christentum Gewaltverzicht und Feindesliebe predigt. Die widerstrebenden Momente werden im Mittelalter teils zu hybriden Synthesen vereinigt – etwa im christlichen Rittertum, dessen Ideal der „Ritterlichkeit“ gegenüber Frauen und Schwachen den Geist der Bergpredigt mit der germanischen Kampflust zusammenbringt. Doch spätestens in der Neuzeit brechen die Synthesen wieder auf, die einzelnen Momente verselbständigen sich, und in der anarchischen Fliehkraft der widerstrebenden, unvereinbaren Kräfte wird Europa zu dem, was es heute ist: „die einzige Zivilisation, die sich dem Rest der Welt aufgezwungen hat“ (Hirst).

Am Ende des Büchleins vergleich Hirst Europa mit China. Die Chinesen lebten über Jahrhunderte im Einklang mit sich selbst. Die Macht war im Kaiser gebündelt, der Konfuzianismus schuf den Rahmen für das politische System, das öffentliche Leben und das private Verhalten gleichermaßen. Die Gesellschaft war kohärent, es gab keine Grundwidersprüche, die sich quer durch ihre Fundamente zogen, wie es in Europa der Fall war. Und was passierte? Gegenüber dem explodierenden Europa geriet China in der Neuzeit immer mehr ins Hintertreffen. Erst das 20. Jahrhundert, also der Kontakt zu Europa (das steht nicht bei Hirst, das füge ich hinzu) brachte wieder eine Widersprüchlichkeit in die chinesische Gesellschaft, die zu dem dynamischen und expandierenden China führte, das wir heute erleben.

Warum schreibe ich das alles? Weil Widersprüchlichkeit gut ist. Und weil sie immer noch allzuoft als Übel wahrgenommen wird. Wer widersprüchlich handelt, gerät gerne unter Rechtfertigungsdruck. Wer beschreiben soll, was er tut und warum er es tut, von dem wird erwartet, dass er es auf kohärente Weise tut. Vielleicht wirkt hier das griechische Fundament nach („Die Welt ist einfach, logisch und mathematisch“).

Und doch handelt kaum ein Mensch kohärent. Höchstens ausgemachte Langeweiler. Die allermeisten Menschen leben in mehreren, inkompatiblen Wertesystemen, sie werden von mehreren, inkompatiblen Sehnsüchten angetrieben. Nirgends wird das deutlicher als in der Kunst.

Nehmen wir einen Komponisten wie Luigi Nono. Er träumte von der klassenlosen Gesellschaft, doch in ihr hätte es die Musik, die er schrieb, aller Wahrscheinlichkeit nicht gegeben. Und er hatte, je älter er wurde, einen Hang zum Mystiz- und Ästhetizismus – welcher der kommunistischen Ideologie direkt entgegengesetzt war. Er, der Verfechter der Gleichheit aller Menschen, hatte privilegierten Zugang zur elitärsten Studiotechnik und erforschte die Feinheiten elektronischer Musik in einem erstklassigen Umfeld, das der Mehrheit der Menschen verschlossen blieb.

Aus diesen Grundwidersprüchen erwächst aber gerade die Größe des Nonoschen Werks. Die Widersprüche sind weder auflösbar noch auflösungsbedürftig. Sie machen in ihrer Verschlungenheit Nono und seine Musik aus.

Man vergleiche Nono mit Ernst Hermann Meyer. Nono war Kommunist, Meyer war Kommunist. Nono war Parteimitglied, Meyer war Parteimitglied. Nono lebte in Italien, Meyer in der DDR.

Ernst Hermann Meyers Leben und Schaffen waren frei von Inkonsequenz. Er trat 1930 in die KPD ein, ging 1933 ins Exil, kehrte 1948 in die Sowjetische Zone zurück. Er war Stalinist und distanzierte sich von Stalin, als Chruschtschow das tat. Er war linientreu bis in den Tod und künstlerisch ein treuer Verfechter des Sozialistischen Realismus. Er schrieb Chöre namens „Dank euch, ihr Sowjetsoldaten“. In der DDR wurde er hochgeehrt, mit Preisen überhäuft und als großes Vorbild angepriesen. Heute ist er vergessen.

Ernst Hermann Meyer hätte sein Leben argumentativ viel besser verteidigen können als Nono. Bei Meyer hatte alles Konsequenz. Und doch war Meyer ein Langweiler.

Widersprüchlichkeit ist sicher auch deshalb so schlecht angesehen, weil der Grat zu Doppelmoral und Opportunismus schmal ist. Ein anderer kommunistischer Komponist, ebenfalls in Italien lebend (obgleich Deutscher), war auch widersprüchlich. Er trat für die klassenlose Gesellschaft ein, bewohnte aber selbst ein luxuriöses Anwesen in der Toskana.

Diese Art von Widersprüchlichkeit ist schwerer zu akzeptieren als die Nonosche. Auch hier sind widerstreitende Sehnsüchte involviert (die Sehnsucht nach der Gleichheit aller Menschen, die Sehnsucht nach dem persönlichen Wohlergehen), doch ist die zweite Sehnsucht wesentlich prosaischer als die erste. Bei Nono widerstreiten bestenfalls Widerstandskämpferprosa und Hölderlinoden. Bei Henze widerstreiten Che Guevara und Hirschbraten.

Doch wie so oft – der Missbrauch einer eigentlich guten Sache ist kein Grund, die gute Sache zu verdammen. Ich bleibe dabei: Widersprüche sind gut. Wer bei der Beantwortung der Frage, warum er so handle, wie er handle, ins Stottern gerät, der ist auf dem richtigen Weg.

Europa hat auf diesem Weg die Welt erobert. Der Künstler kann sie verwandeln! Denn nicht vergessen: Die Welt ist böse – und Kämpfen macht Spaß!


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