Wir haben eine nette Nachbarin, die ist vielleicht sechzig Jahre alt und seit über zehn Jahren nicht mehr berufstätig. Sie geht fast nie aus, schaut wenig Fern und die Storen an den Fenstern sind meistens unten. Ich habe gedacht, dass sie ein sehr langweiliges Leben hätte. Seit sie mich aber das eine oder andere mal um eine kleine Gefälligkeit bat, weiß ich, wie unglaublich spannend ihr Tag ist. Sie sieht durch die Spalten des geschlossenen Fensters Detektive auf der anderen Seite des Hofs, die sie beschatten. Sie weiß, dass ihr Telefon abgehört wird, und muss sich ständig vorsehen. Wie in einem Krimi. Und all das generiert das Gehirn in der abgedunkelten Wohnung.
Jeden Tag neu staune ich über dieses Wunderwerk hinter der Stirn. Was das Gehirn alles leistet erkennt man erst, wenn man hört, was alles schief gehen kann:
- Frau S. welche zwar alle Dinge sieht, aber an einem anderen Ort. Zum Beispiel links statt rechts, oben statt unten oder Spiegelverkehrt.
- Der stark retardierte Mann, der aber tausende von Opern im Kopf hat, und daher auch von Fachleuten konsultiert wird.
- Herr T. welcher die Person, die ihm gegenübersitzt, als eine ständig sich wechselnde Person wahrnimmt und sich immer darauf einstellt.
- Der Medizinstudent, der träumt, er sei ein Hund, und nach dem Aufwachen einen extrem ausgeprägten Geruchssinn hat. Nach zwei Wochen verschwindet das Phänomen wieder.
- Herr P. der beim Jahr 1945 stehengeblieben ist, und die seither verflossenen Jahre nicht mehr abspeichert (dokumentiert 1975).
Und so darf man jeden Morgen richtig dankbar sein, dass unser Kopf halbwegs gut funktioniert, auch wenn er vielleicht das eine oder andere vergisst.
QUELLE: Alle diese Beispiele und viele mehr sind in dem Buch “Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte” (1985) von Oliver Sacks dokumentiert. Er ist Professor für klinische Neurologie.
Lebenslinien V / 66cm x 48cm / Gouache auf Aquarellpapier / 2006, Nr.06-032