Vor Lebensangst zu Tode versichert

Vor einigen Tagen war in den Medien viel über einen sehr alten, aber mittlerweile vom Aussterben bedrohten Beruf zu hören und zu lesen – und gerade dieses Beispiel ist wieder einmal typisch für unsere im Kern extrem asoziale Gesellschaft. Die konsequent sämtliche Risiken auf diejenigen abwälzt, die sich weniger effektiv dagegen wehren (können?) als andere. Betroffen sind – wenig überraschend – Frauen, und zwar gleich doppelt: Hebammen helfen werdenden Müttern dabei, ihre Kinder zu bekommen. Und der Beruf der Hebamme ist bedroht – weil eventuell auftretenden Geburtsschäden durch die Möglichkeiten der modernen Medizin inzwischen so teuer geworden sind, dass keine Versicherung sie mehr zu bezahlbaren Prämien absichern will. Die Hebammen können bei ihrem vergleichsweise geringen Verdienst diese inzwischen absurd teueren Haftpflichtversicherungen nicht mehr bezahlen. Und die werdenden Mütter haben deshalb keine Hebammen mehr an ihrer Seite, mit denen sie ihre Kinder in vertrauter Atmosphäre zuhause zur Welt bringen können.

In früheren Zeiten, als der Mensch noch nicht an sein verdammtes Recht auf sein persönliches Glück, sondern an Schicksal und göttliche Fügung vertraut hat (wobei ich hiermit ausdrücklich NICHT gesagt haben möchte, dass das in jeder Hinsicht besser sei), waren Versicherungen überflüssig. Zum einen, weil es in den meisten Gesellschaften Regeln für die Versorgung von bedürftigen Menschen gab, zum anderen, weil es eine prinzipielle Bereitschaft gab, Schicksalsschläge als solche zu akzeptieren. Und es ist nun einmal so, das Dinge schief laufen können, ohne dass irgendwer schuld ist und entsprechend in Haftung genommen werden kann. Ein Unfall ist ein Unfall, auch wenn man in unserer Gesellschaft geneigt ist, immer eine Schuld zu konstruieren. Ja, und es gibt natürlich auch schuldhaftes Verhalten. Wenn sich jemand besoffen ans Steuer setzt und einen Unfall baut, dann hat der verdammt noch mal schuld an diesem Unfall. Wenn jemand ein Reh vors Auto springt, dann ist zwar das Reh schuld, aber das hat keine Haftpflichtversicherung, die hat nur der Mensch.

Ja, und wenn jemand seinen Job schlecht macht, dann ist er irgendwie auch schuld, wenn etwas schief läuft. Und leider ist das bei einigen Berufen tragischer als bei anderen: Wenn ein Busfahrer übermüdet in Sekundenschlaf fällt und den Bus planlos in die Botanik fährt, dann hat das unter Umständen schreckliche Auswirkungen – auch wenn Busfahrer für ihren verantwortungsvollen Job gar nicht dermaßen gut bezahlt werden. Oder wenn, wie vor einiger Zeit bei Hordorf in Sachsen-Anhalt geschehen, ein Lokführer ein Signal übersieht. Kann passieren. Dabei gibt es seit den 30er Jahren ein automatisches mechanisches Notbremssystem, das theoretisch greifen könnte, wenn die jeweilige Strecke entsprechend ausgerüstet ist: Wird ein rotes Signal überfahren, wird automatisch eine Notbremsung eingeleitet. Die eingleisige Strecke, auf der der Unfall passierte, war noch nicht mit diesem System ausgestattet – obwohl es im Grunde kein Problem gewesen wäre. Technologie von vorgestern. Aber die Bahn muss wirtschaftlich arbeiten und spart. In dem Fall am falschen Ende. Ich will nicht der Lokführer gewesen sein, dem dieses Missgeschick passiert ist. Aber es ist nun mal passiert. Und so können auch bei einer Geburt Fehler passieren – und zwar nicht nur Hebammen, sondern auch Ärzten. Aber die verdienen deutlich mehr und können sich entsprechend besser absichern.

Zurück zu den Geburtshelferinnen. So eine Geburt ist nämlich kein Kindergeburtstag – das kann ich aus eigener Erfahrung sagen. Auch wenn sie ja der Anlass für weitere Kindergeburtstage ist. An dieser Stelle will ich an dieser Stelle ausdrücklich betonen, dass ich absolut verstehen kann, wenn mensch sich das mit dem Kinderkriegen in diesen Zeiten und in dieser Welt NICHT antun will. Diese Welt ist in ihrer derzeitigen Organisation nun wirklich nicht für Kinder geeignet und für Erwachsene eigentlich auch nicht.

Aber als primitiv biologisches Wesen, das ich nun einmal bin, fand ich es irgendwie aufregend und wichtig, mich auf das Abenteuer Kinderkriegen einzulassen. Aber als denkender Mensch, als intellektuelles Wesen, muss ich ausdrücklich betonen, dass jeder, der in dieser Gesellschaft Kinder in die Welt setzt, nicht weiß, was er/sie tut und komplett einen an der Waffel hat. Aber das hat weniger mit der Geburt an sich, sondern mit dem, das danach kommt zu tun.

Ich wusste es damals definitiv nicht, was ich als entlastendes Moment ansehe – und es ist keinesfalls die Erfüllung des Lebens oder so ein Scheiß. Es ist ein verdammt harter Job, den unser und andere Scheißstaaten für sich vereinnahmen, ohne einen auch nur annähernd dafür anzuerkennen. Das beschissene Kindergeld und die anderen angeblich großzügigen Sozialleistungen sind nämlich bestenfalls ein erbärmliches Trostpflaster für das, was man damit tatsächlich leistet: Nämlich weitere Staatsbürger zur Benutzung bereitzustellen, die, wenn es gut geht, in den Staatshaushalt und die Sozialkassen einzahlen, und damit wesentlich mehr einbringen, als sie jemals gekostet haben. Das ist ja die Idee dahinter: Die Bürger sollen gesunde, gut funktionierende Kinder bekommen, die den nationalen Standort im internationalen Vergleich voranbringen. So weit, so kotz.

Was also, wenn das Projekt schief geht: Der Staatsbürger kommt auf die Welt und funktioniert nicht? Da haben wir eine ganze Reihe von Schuldigen, die Eltern natürlich, die Erziehung, das Schulsystem, natürlich auch die Gesundheit und damit komme ich endlich wieder zum Ausgangspunkt: Zur Geburt. Damit es einen neuen Staatsbürger gibt, muss der erstmal geboren werden. Gut, auch gezeugt, aber dafür ist ja heute inzwischen eine ganze Industrie mit beträchtlichen Umsätzen zuständig, weil Sex allein bringt zwar auch Umsätze, aber nicht unbedingt Kinder. Aber das ist ein anderes Thema und soll ein andermal diskutiert werden. Wobei ich Sex total gut finde. Vor allem ohne Kinder.

Angenommen es gab jetzt einen erfolgreichen Befruchtungsvorgang, wie auch immer der zustande gekommen ist, und entsprechend eine Schwangerschaft. Dann will so ein Kind ja auch geboren werden. Ich hatte von meiner Mutter, die mich im Jahr 1967 zur Welt bringen musste, so viel Schreckliches über den Gebärvorgang im Krankenhaus gehört, dass ich wusste: NIEMALS, wenn es irgendwie vermeidbar ist.

Denn meine Mutter begab sich, als es pressierte, ins Krankenhaus, so war das halt in den 60er Jahren. Ihre Mutter hatte drei Kinder zuhause geboren – die Mutter meines Vaters auch. Nur Generation zuvor war es zumindest auf dem Land noch völlig üblich, dass Frauen ihre Kinder zuhause geboren haben. So ändern sich die Zeiten. Und ja, ich weiß auch, dass in früheren Zeiten mehr Kinder während oder kurz nach der Geburt gestorben sind und natürlich auch mehr Frauen. Es ist ja nicht so, dass ich die Segnungen der modernen Medizin ablehnen würde. Aber die moderne Medizin hat halt auch ihre Tücken. Und eine davon ist, dass sie besonders dann nötig wird, wenn man erstmal damit angefangen hat. Gerade bei Geburten kann man das besonders deutlich sehen – wird in den Vorgang, der an sich überhaupt keine Krankheit ist, erstmal eingegriffen, dann werden oft auch noch eine Menge weiterer Maßnahmen fällig.

Gerade Ende der 60er Jahre, als ich zur Welt drängte, experimentierten die Ärzte gern mit dem, was so ging – und bei meiner Mutter ging es für den Geschmack des Krankenhauspersonals nicht schnell genug voran, also bekam sie Wehenmittel. Aber weil das nicht so wie geplant funktionierte und das Wochenende vor der Tür stand, wurden die Wehen wieder gestoppt. Ich sollte definitiv kein Sonntagskind werden. Meine arme Mutter wurde jetzt ewig hingehalten – erst als es schon fast zu spät für mich war, durfte die Geburt dann doch am Sonntag statt finden und weil dann ganz schnell gehen musste, waren die Ärzte nicht zimperlich. Ich wurde mit einer Saugglocke ans Licht der Welt gezerrt, wobei sowohl meine Mutter als auch ich ziemlich lädiert wurden. Für meine Mutter war das alles in allem ein ziemlicher Horrortrip, ich selbst erinnere mich glücklicherweise nicht daran. Ich bin also tatsächlich ein Sonntagskind geworden. Die Frage, ob nicht alles besser gelaufen wäre, wenn man einfach gar nichts gemacht und der Natur ihren Lauf gelassen hätte, bleibt offen – nach meinen eigenen Erfahrungen halte ich das aber für sehr wahrscheinlich.

Aber nach all dem, was meine Mutter mir berichtete, was Ärzte im Krankenhaus mit ihr angerichtet haben – bei der Geburt meiner jüngeren Schwester war es noch schlimmer, da haben die Ärzte ihr im Krankenhaus mehrere Halswirbel zerquetscht – wollte ich bei der Geburt meines ersten Kindes auf keinen Fall ins Krankenhaus.

Ich war ja vergleichsweise jung (Ende 25) und fit. Und es gab in Berlin dieses Geburtshaus. Das fand ich toll, auch wenn meine blöde Krankenkasse (damals die Barmer BEK) die Kosten für das Geburtshaus nicht übernehmen wollte. Auf meinen Einwand hin, dass die Geburtshaus-Geburt im Geburtshaus Charlottenburg ja viel billiger sei, als eine Geburt im Krankenhaus, antwortete die BEK originellerweise, dass die Kosten völlig egal wären, es ginge vielmehr um das Solidarprinzip – das, was im Leistungskatalog verankert sei, sei für alle da, egal was es koste, meine komische Idee vom Geburtshaus hingegen nicht. Und deshalb musst ich als mittellose Studentin die Rufbereitschaft für die Hebammen vom Geburtshaus aus eigener Tasche bezahlen, weil mir Solidarität zu den anderen Versicherten die Kostenübernahme verweigert wurde. Auch interessant.

Wäre ich ins Krankenhaus gefahren, hätte die Kasse den ganzen Scheiß bezahlt, weil ja im Leistungskatalog so vorgesehen. Aber ich galt ohnehin als höchst subversiv, weil ich mein Kind lieber irgendwo unter der Betreuung erfahrener Hebammen, aber eben nicht im Krankenhaus zur Welt bringen wollte. Tendenziell gefährlich. Der Gynäkologe, der die Schwangerschaft bei mir feststellte, unterstellte mir gleich, als ich ihn nach der Möglichkeit einer Hausgeburt fragte, dass ich ja wohl Nazi sei: „Was, Sie wollen den Kampf ins Heim verlegen?! Das haben die Nazis auch so gemacht: Den Kampf zurück verlegen in jedes Haus, das ist die eigentliche Heimatfront!“ Ich war perlex.

Und suchte mir einen anderen Frauenarzt, in diesem Fall eine Frauenärztin, die als Ostberlinerin zwar keine konkrete Erfahrung mit Haus- oder Geburtshausgeburten hatte, aber derartigen Projekten aufgeschlossen gegenüberstand: „Meine Patientinnen, die ihre Kinder mit Hebamme zu Hause bekommen, sind meistens besser drauf und nach der Geburt schneller wieder auf den Beinen!“

Damit komme ich wieder zur Hebamme, deren Beruf gerade abgeschafft wird, weil sie wie eingangs schon erwähnt, ihre Berufshaftpflicht nicht mehr bezahlen können. Dank der erfahrenen und engagierten Hebammen, die die Geburten meiner Kinder begleitet haben, habe ich sehr viel angenehmere Erinnerungen an ihre Geburten, als das bei meiner Mutter der Fall ist. Nachdem das mit der ersten Geburt im Geburtshaus gut gegangen ist, beschloss ich beim zweiten Kind, gleich zuhause zu bleiben, weil das ja noch viel bequemer ist – und dank mobiler Wehenschreiber und so weiter auch kein allzu großes Risiko – zumal es ja eine Hebamme gibt, die die komplette Geburt begleitet und exklusiv für einen da ist. Das ist in Krankenhäusern nicht so. Deshalb finde ich es nicht nur schade, sondern richtiggehend ärgerlich, dass freien Hebammen ihr Beruf jetzt unmöglich gemacht wird, und Frauen bald kaum noch Möglichkeit mehr haben werden, ihre Kinder zuhause zu bekommen.

Denn gerade in Zeiten, wo viel über defizitäre Krankenhäuser lamentiert wird und über den Kostendruck, der dazu führe, dass es in deutschen Krankenhäusern immer häufiger zu Behandlungsfehlern und im schlimmsten Fall tödlichen Komplikationen kommt, wäre es doch sinnvoll, solche Alternativen zu erhalten. Aber das passt halt nicht in unser perverses System.



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