Verplantes Leben

Wenn ich so lese, wie sich junge Menschen ein Leben vorstellen, kann ich nur den Kopf schütteln. Alles soll glatt gehen, jeder Stolperstein soll vermieden werden und falls das nicht sichergestellt werden kann, so versichert man sich gegen solche Stolpersteine. Man imaginiert sich ein Leben, das lediglich auf der Sonnenseite stattfinden soll, und die Industrie und Gesellschaft unterstützt diese Einstellung, mach Lebensplanungssicherheit zur obersten Maxime des modernen Daseins. Der endlos gesunde Mensch, den man allerorten reklamiert, ist so ein Produkt aus den Gesunderhaltungsschmieden. Dabei meint Gesunderhaltung jedoch nur, um Nietzsche zu zitieren, dasjenige Maß an Krankheit, das es noch erlaubt, wesentlichen Beschäftigungen nachzugehen. Das meint heute noch konkreter, so wenig krank zu sein, dass man weiterhin beschäftigt bleiben kann - wer noch beschäftigt ist, der ist auch gesund genug. Das ist die Verdrehung der Vernunft, die früher fragte: Sind Sie gesund genug, um noch zu arbeiten?

Das Alter ist ein anderer Stolperstein, den man heute ausmerzen möchte. Man will zwar alt werden, aber nicht alt sein. Ortega y Gasset schrieb mal, dass das Alter immer noch das einzige Mittel ist, das man entdeckt hat, um lange leben zu können. Diese Weisheit ist heute allerdings aus der Mode., man würde gerne jünger alt. Dieselben Köpfe, die Krankheit als Hemmschuh für einen reibungslosen Lebenslauf auszumerzen versuchen, wollen auch das Alter aus der Welt befördern. Gebrechlichkeiten passen nicht ins moderne Leben, sie halten auf, erzeugen Kosten, kosten Nerven, nerven den Produktionsablauf. Man will den Menschen nicht vergesunden, damit er glücklicher ist - wer das glaubt, der unterliegt einem Irrtum. Man möchte nur, dass der monotone Alltag aus Plackerei und Schufterei ohne Reibungsverluste vonstatten geht.

Und Kinder erst, die behindern ungemein. Kindertagesstätten, in die selbst schon Säuglinge einquartiert werden können, das sehen die Ökonomisierungskapitäne mit großem Wohlwollen. Kinder hemmen, entziehen der Gesellschaft wertvolle Arbeitskraft. Gäbe es zu viele Kinder, so würde manche Branche in Stagnation verfallen. Die Urlaubsindustrie würde jedenfalls dicke Backen machen, denn Kinder sind teuer und lassen nicht viel Spielraum für Hotels mit Zugang zum Strand. Ohnehin empfinden Menschen Kinder immer häufiger als Ballast für ihre Lebensplanung, als Stolperstein für ein Leben, wie man es, manipuliert durch Reklame, gerne leben möchte. Alles will man erleben, alles haben - und die Irrungen und Wirrungen des Lebens, wie sie ganz von alleine entstehen, die sollten bitte bestmöglich vom Leib gehalten werden. Auch ein Grund dafür, warum heute Beziehungen austauschbar sind, wie einst nur Unterwäsche - bei hygienischen Menschen, versteht sich.

Wir leben in einer Zeit, da alles, was nicht konform ins moderne Leben passt, als lebenplanungsschädlich verstanden wird. Der homo oeconomicus und der homo supermercatus wollen Sicherheit haben, sie wollen Pläne hegen, Vorstellungen entwerfen dürfen. Krankheit, Alter, Kinder, Beziehungszwist und so weiter, das stört den Ablauf. Seine zwei Schienen müssen gut geölt und gewienert sein, sonst klemmt der Ablauf. Schiene Beruf und Schiene Privatheit, manchmal auch beide Schienen ineinandergezwirbelt, sollen frei von Hindernissen bleiben. Der Lebensplan darf nicht zu Schaden kommen, alles soll mit Kalkül über die Bühne gehen. Für jedes unliebsame Lebensereignis gibt es eine Lösung, suggeriert dabei die Industrie. Wir können alles passend machen! Und dann liegen sie eines Tages mit Knochenkrebs in der Klinik und können sich kaum mehr rühren, Chemo schlägt nicht an, mindert nicht mal den Wucherungsgrad und sie bekommen zu hören, dass die Allmacht des Menschen über seine Lebensplanung doch nicht hundertprozentig ist. "Unheilbar" gab es in diesem Leben vorher nicht, "nichts zu machen" war ein Spruch für Verlierer - "unheilbar" war aus dem Soziolekt ramschiger Ärzteserien.

Natürlich will ich kein Plädoyer auf Krankheit und Gebrechen halten. Wer ist schon gerne krank? Zum Leben gehört Krankheit aber trotzdem. Wir kennten Gesundheit nicht, wenn wir keine Krankheit hätten. Was ich allerdings verurteile ist, wie man in dieser Gesellschaft mit den Unabwägbarkeiten des Lebens umgeht. Man tut so, als könnte man die Lebensplanungsschädlichkeiten kalkulieren, sie ausschalten und kontrollieren. Kein Bekenntnis dazu, dass der Mensch, gefangen in seinem Schicksal, nichts weiter als eine ganz arme Sau ist. Vorsorge treffen! ist das Schlagwort - wer vorsorgt, der ist hernach abgesichert, den ereilt das Schicksal nicht auf falschem Fuß. Doch genau das geschieht, denn zum Menschsein gehört Krankheit, Alter, gehört es, Verantwortung für andere, seien es Kranke, Alte oder Kinder, zu übernehmen. Das sind natürlich "Stolpersteine", die das schöne und angenehme Leben nach Plan erschweren. Aber genau ein solches Dasein nach Schablone ist nicht der vorgesehene Fall, es ist nicht mal die Ausnahme, es ist schier nicht machbar. Doch unsere Zeit meint, genau so hat Leben stattzufinden, durchgeplant bis unter die Zehennägel.

Und alles was Lebensplänen schadet, wird als Hindernis betrachtet. Wir können noch so viel Mildtätigkeit einfordern im Bezug auf diejenigen, die Hilfe benötigen. Wenn man den Menschen nicht wieder beibringt, dass das Leben nicht durchstrukturiert werden kann, dann wird sich der eisige Zeitgeist, der in Alten, Kranken und Kindern Ballast hineininterpretiert, nicht abflauen, sondern ganz im Widerspruch dazu, er wird nochmal runterkühlen. Nur wenn man von klein an begreift, dass das Leben keine Planwirtschaft ist, sondern voller Entwicklungen, die wir bestenfalls marginal beeinflussen können, dann öffnet sich vielleicht auch das Bewusstsein dafür, dass es ungeplante Momente im Leben geben kann, in die wir alle hineinstolpern könnten. Dann wird uns offenbar, dass wir alt, krank, behindert, arbeitslos oder dergleichen werden können - wenn uns bewusst wird, dass wir selbst der Unabwägbarkeit ausgesetzt sind, dann erkennen wir vermutlich auch wieder den Wert in solchen Menschen, die wir heute noch als Ballast für die Gesellschaft bezeichnen.


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