Für ein Europa der Menschen

Die Belagerung der Straße, wie wir sie derzeit in Griechenland beobachten können, darf kein europäischer Einzelfall bleiben.

 

Wir sollten das griechische Aufbegehren auch nicht alleine als Akt gegen die Währungspolitik der Europäischen Union verstehen, sondern als ein Verlangen, die EU generell einer Revision zu unterwerfen. Die Staaten der EU, die allesamt Sozialabbau und Ausplünderung der ärmsten Schichten erleben, müssen einer solchen griechischen Wut überstellt werden. Die ausgebeuteten Menschen aus den Nachbarländern Griechenlands dürfen sich nicht verkriechen, sie sollten die an ihnen praktizierte Ungerechtigkeit vergriechen. Die Europäische Union ist vorallem eines: eine Union der Konzerninteressen, ein multilaterales Tête-a-tête eines ökonomisierten Europas. Ein Europa der Bürger hat es nie gegeben. Man tat fortwährend so, als sei ein wirtschaftlich geeinter Kontinent der Schlüssel dorthin. Das Primat der Politik galt in der EU nicht, dort hatte immer die Wirtschaft die Richtlinienkompetenz inne, was anhand der EU-Verfassung, die später als Vertrag über die Bühne gehen sollte, relativ unkompliziert belegbar war. Zölle sollten für Unternehmer fallen; führt man als Privatperson allerdings mehr als eine vorgeschriebene Anzahl von Zigaretten bei sich, wenn man beispielsweise die tschechische Grenze passiert, so müssen diese verzollt werden. Geschäfte mit Drittländern, die sich keinen Freihandel leisten können, die Schutzzölle benötigen, um das Überleben ihrer eigenen nationalen Wirtschaft zu gewährleisten, sind im EU-Vertrag ausgeschlossen. Die große Freiheit Europas war stets nur die große Freiheit europäischer Multis. Dafür wurde von Brüssel aus zentralisiert und generalisiert, es wurden wenig einträgliche Normen gekappt, um dem ökonomischen Prinzip in jeder gesellschaftlichen Nische Platz zu verschaffen. Die Europäische Union machte es von jeher ihren Bürgern leicht, sie zu verachten und zu hassen. Der träge Bürokratenapparat, ein Parlament, das keine Entscheidungsbefugnis, sondern Gesetzesentwürfe aus Brüssels Hinterzimmer zu bejahen hat, eine Politik zugunsten Milliardenkonzernen und gegen die Interessen der "kleinen Leute" - und nun obendrauf Sparprogramme für Griechenland, Portugal und Spanien, die die dortigen Menschen existenzieller Nöte und Gefahr aussetzen. Was auf Griechenlands Straßen geschieht ist mehr als ein Akt gegen die europäische Währungspolitik und ihre Auswirkungen, mehr als ein Streich gegen die eigene Regierung - es ist die Ablehnung Europas, wie es sich in der EU zeigt. Europa beweihräuchert sich gerne selbst, indem es sich abendländische Werte attestiert, christliche Moral nennt man die dann auch. Attribute wie Nächstenliebe oder Demut - beides ist in der EU-Politik nur klassistisch nachzuweisen: als Demut vor dem großen Geld - und als Liebe gegenüber demjenigen Nächsten, der genug Kapital besitzt, um am nächsten Ersten (Schmier-)Gelder zu überweisen. Die Liebe zu den Armen und Schwachen, was ja angeblich auch eine europäische Kulturleistung sein soll, wenn man den Sonntagsreden glaubt, ist jedoch nur schwerlich auffindbar. Sollte das Undenkbare geschehen, sollten nach Griechenland und Spanien, weitere europäische Länder mit von empörten Menschen verstopften Straßen und belagerten Marktplätzen aufwarten können, so sollte es ein Ziel dieser Bewegung sein, die EU, so wie wir sie heute kennen und ertragen müssen, aus der Geschichte zu wischen. Nicht nur moderatere Sparmaßnahmen dürfen die Bürger Europas auf die Straßen treiben: das wäre zu wenig. Der historische Augenblick wäre nicht effizient genutzt, wenn man nicht gleich mehr forderte. Die marktorientierte EU hat zu weichen, sie ist durch eine angebotsorientierte EU zu ersetzen - sie hat das Primat der Politik zu wahren und nicht das Spielzeug der Wirtschaft zu sein. Als Europäer kann man sich in diesem Europa nur fühlen, wenn man von Europa, wie es sich derzeit gestaltet, profitiert hat. Bezeichnenderweise nehmen meist nur Wirtschaftsbonzen und Politikerclowns das Label "Ich fühle mich als Europäer!" in Anspruch. Welcher Arbeitslose sagt das? Welcher Niedriglöhner? Welcher Bauer? Welcher kleine Angestellte? Das Übel des Nationalismus läßt sich nicht tilgen, wenn eine solche EU den Grundgedanken des Internationalismus torpediert und ihn nur für "juristische Personen" einrichtet, nicht aber für alle europäischen Bürger, auch für kleine, unterschichtige "natürliche Personen". Europa auf die Straße! Und dann fordere es, dass die EU der Wirtschaftsfalken verschwinde. Dann könnten endlich auch verbindliche Normen in den Bereichen Einzug finden, die die EU bislang schmählich vergessen hat. Dann könnte es verpflichtende Mindestlöhne geben! Kündigungsschutz! Gleiche Arbeitnehmerrechte in alle EU-Ländern! All das müsste nicht in jedem Land gleich hoch oder gleich konzipiert sein. Denn auch der Zentralismus hat zu schwinden. Europa ist zu groß, um zentralisiert regiert zu werden. Eine Mindestlohnpflicht müsste sich in der Höhe natürlich an den jeweiligen Zuständen orientieren - mit Dynamik selbstverständlich, die sich über Jahre hinweg nach oben anpasst. Aber dass eine neue EU als Instanz darüber wacht, ob sich ein Land an Sozialstandards hält, das wäre etwas, was wir bisher nur selten erleben durften. Mit der Option zur Sanktion, wenn sich ein Mitgliedsstaat weigert, verpflichtende Sozialstandards einzuleiten. Eine solche neue Europäische Union hätte letzthin auch die Asyl- und Emigrantendebatte anders, humanistischer, humanitärer zu führen. Lampedusa kann nicht das Halleluja und Amen sein, die Stacheldrahtverhaue vor den spanischen Exklaven in Afrika auch nicht. Eine verbindliche Asylpolitik, die diesen Namen auch verdient, ist für ganz Europa anzuwenden - und über kurz oder lang wäre ein Staatenbund mit den Ländern des Maghreb ein notwendiges Ziel, gerade jetzt, da man sich dort von diesen Hitlerimitationen lossagt. Die Ströme afrikanischer Desesperados, afrikanischer Hoffnungsloser, sie werden nicht durch Stacheldraht, Maschinengewehre oder ein unpassierbares Binnenmeer dazu animiert, in ihren Heimatländern zu verbleiben. Kein Mensch verlässt freudig seine Heimat - kein Mensch setzt sich mit einem Lied auf den Lippen den Gefahren aus, die die Durchquerung eines wilden Kontinents mit sich bringt - kein Mensch sieht mit einem Lächeln den bewaffneten Soldaten und Polizisten Europas ins Auge, die den Auftrag der Zurückdrängung der Massen nach Afrika erhalten haben. Dennoch kommen sie, dennoch wollen sie nach Europa. Die Ströme der Desesperados lassen sich nur zurückhalten, wenn man die Zustände, die in deren Heimat herrschen, erträglicher macht. Weniger Militärausgaben, mehr Entwicklungshilfe. Das wäre eine gerechte Asylpolitik - gerade auch dann, wenn man Diktatoren zukünftig nicht mehr tolerierte und als gute Kameraden in Büros europäischer Staatschefs einlädt, um ihnen dort medienwirksam die Hände zu reichen und zu schütteln. Die EU war einst eine große Chance - sie wurde aber verpasst und zum Werkzeug "höherer Interessen" abberufen. Manchmal gibt die Geschichte den Menschen ein zweite Chance. Selten zwar, aber immerhin doch manchmal. Möglich, dass diese Chance nun gekommen ist. Dieses Europa, das die EU präsentiert, es muß enden, damit ein Europa der Menschen entstehen kann. Dann könnte es tatsächlich geschehen, dass niemand mehr über protestierende Griechen berichtet, sondern über sich empörende Europäer, die auf griechischem Boden wohnen...


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