Heute wieder ein Fundgrubentext. Nach der kafkaesken Kost vom letzten Mal jetzt wieder zurück in der realen Welt…
Unwetter
Ganz langsam, einen Fuß vor den anderen setzend, ging sie die Straße entlang. Sie hatte nur einige Besorgungen machen wollen, kurz vor Ladenschluss und es auf dem Rückweg nicht eilig gehabt nach Hause zu kommen. Sie spürte, dass ein Gewitter in der Luft lag und war trotzdem nicht den direkten Weg zurück gegangen. Tatsächlich hatte sie sich gar nicht bewusst für einen Weg entschieden, sondern ihre Füße einfach dort lang gehen lassen, wohin sie wollten; durch die kleinen Seitenstraßen abseits der großen Chaussee, einer der Pulsadern der Stadt. Und das war ihr eigentlich auch ganz recht. Sie wollte jetzt keine Menschen treffen, einfach nur schauen wo hin sie ihr Instinkt führte und sich darauf verlassen, dass irgendetwas in ihr wusste, was sie im Moment brauchte und was das richtige für sie war. Irgendetwas in ihr, das nicht so betäubt und leblos war, wie sie sich fühlte.
Die wenigen Leute, die ihr begegneten beachtete sie kaum. Hätte man sie später gefragt, sie hätte wohl keinen von ihnen beschreiben können oder sich erinnert, wie viele es überhaupt gewesen waren.
Blass grau. So sah der Himmel aus. Eine einzige konturlose Wolke, die sich über die ganze Stadt gelegt zu haben schien und deren Ende nicht zu sehen war. Und dann die Geräusche – oder vielmehr das Fehlen des typischen Rauschens des Autoverkehrs, an das sie schon so gewöhnt war – die Welt schien verstummt zu sein. Eine Geisterstadt mit Geisterstraßen; die Ruhe vor dem Sturm. Wenn man darauf achtete, konnte man schon die Anspannung spüren, die in der Atmosphäre lag. Sie übertrug sich auf die Gebäude, die Straßen, die Menschen und die Tiere. Nur ein paar Vögel hörte man hie und da noch singen.
Die Spannung des Gewitters hatte sich von der Atmosphäre auf die Gebäude und Straßen übertragen und auch sie meinte, diese Spannung immer stärker in sich zu spüren. Als sie weiter ging, zog langsam leichter Wind auf, der die Baumkronen rascheln ließ. Sie blickte zum Himmel, aber noch schien er unverändert. Dafür schien jetzt so viel Elektrizität in der Luft zu liegen, dass sie eigentlich hätte Funken sprühen müssen. Alles schien auf diesen Moment zu warten, in dem der erste Blitz in den Boden schlug und ein gewaltiger Donner durch die Luft klang. Die Anspannung war fast greifbar und auch sie wurde von ihr ergriffen, merkte wie sie in ihr wuchs und wuchs und zu einer unerträglichen Last in ihrem inneren wurde. Es war ihr egal, ob sie nass werden würde, sie wollte nur endlich das erlösende Gefühl des Regens und des Grollens und Blitzens erleben, endlich dieses beklemmende Gefühl wieder loswerden.
Erst war es nur ein leichter Wind, der einige Wasserspritzer mit sich trug, die fast nicht spürbar ihr Gesicht benetzen. Dann wurden richtige Tropfen daraus und sie genoss den Aufprall eines jeden Einzelnen, der sie immer leichter werden ließ. Der Wind frischte weiter auf, die Tropfen wurden größer und dicker und bald schon war sie bis auf die Haut durchnässt. Die Wassertropfen platschten um sie herum in den Pfützen und rannen ihr übers Gesicht, die Haare, versickerten in ihrer nassen Kleidung und ließen sich weiter auf die Erde fallen. Und mit jedem Tropfen wurde ihr Herz freier und ihre Gedanken wieder klarer. Mit dem ersten Blitz durchzuckte sie eine Welle der Erleichterung, sie fühlte sich frei und lebendig, fast schwerelos. Und die Wassertropfen auf ihrem Gesicht wurden mit salzigen Tränen vermischt, die sie so lange zurück gehalten hatte und die sich jetzt ihren Weg bahnten. Der erste Donnerschlag entband sie restlos von ihrem. Sie schloss die Augen, fühlte den Regen und den Wind, ihre Tränen und merkte wie das Glück gleich einer kleinen Sonne in ihrer Brust zu scheinen begann und bald ihren ganzen Körper mit Helligkeit durchflutete.
Großstadtkaleidoskop 2012