Töten als Leistung

“…In den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern hat man sich mittlerweile dermaßen an Amokläufe und erweiterte Selbstmorde gewöhnt, daß nach ein paar Tagen Grusel-Voyeurismus die Tat schon wieder aus den Medien verschwindet. Der erste Schock über solcherlei barbarische Akte wird in der Regel überwunden, indem – wie zuletzt im Falle des Rechtsterroristen Anders Behring Breivik – der Täter pathologisiert wird. Wir erfahren, daß dieser, immerhin »aus unserer Mitte«, schizophren oder anders abnormal ist, weshalb sich allein der Versuch, seine Motive nachzuvollziehen, erübrige. Wird überhaupt die Frage aufgeworfen, wie eine Gesellschaft beschaffen sein muß, in der solche monströsen Taten zivilgesellschaftlicher Gewalt zur Normalität werden, dann kommt es in der Regel zum kulturalistischen Reflex: Ego-Shooter, Torture-Porn-Filme, aggressive Musik und all die Dinge, die die bürgerlichen Journalisten schon immer verachtet haben, um sich nach unten abzugrenzen, werden als »Ursache« bemüht. Der Widerspruch, daß solcherlei Kulturprodukte wohl Machtphantasien inspirieren, aber die individuell erlittene gesellschaftliche Ohnmacht, die zu diesen Machtphantasien führt, nicht hervorrufen können, wird dabei geflissentlich übergangen. Statt dessen kommt der erhobene Zeigefinger (die Liberalen) oder der Polizeiknüppel (die Kristina-Schröder-Konservativen), und damit ist die Debatte beendet. Das aus der Mitte der Gesellschaft entspringende Böse – denn die große Mehrzahl der männlichen Amokläufer stammt aus der »perfekt integrierten«, leistungsorientierten, weißen Mittelschicht – wurde erfolgreich exorziert. Die Gesellschaft kann weiterleben. Bis zum nächsten Mal.

In bezug auf den Terror aus der Mitte der kapitalistischen Gesellschaften, in denen wir leben, muß die Frage nicht lauten: Welches »kranke Gehirn« (wie es der demokratische Gouverneur von Colorado John Hickenlooper formulierte) brütet solche unverständlichen Taten aus, sondern warum kommt es in einer Gesellschaft, in der eine von radikalen Neoliberalen euphorisch beklatschte sozialdarwinistische Konkurrenz herrscht und eine ganze Generation, deren »Glückssucht« einzig und allein darin besteht, die Sicherheit und den Lebensstandard, den sie von ihren Eltern gewohnt sind, zu halten, der Krise geopfert wird, warum kommt es in einer solchen Gesellschaft nicht zu noch viel, viel mehr solcher barbarischen Akte?

Der Abstieg von James Holmes war aufhaltsam. Gut möglich, daß die Gerichtspsychologen bald eine Schizophrenie beim Angeklagten feststellen werden, die vollkommen unerklärlich mal so eben ausgebrochen sei. Gut möglich, daß eine solche Schizophrenie dann nicht Ursache, sondern Folge seines Handelns wäre. Holmes stammt aus einem Land und einer Klasse, in dem und in der wie nirgendwo sonst die bürgerliche Ideologie vorherrscht, Erwerbslosigkeit und ökonomisches Versagen seien selbstverschuldet und jeder sei seines eigenen Glückes Schmied. Das Perfide am Fall James Holmes ist, daß er sich bis zum Schluß unsicher gewesen zu sein scheint, ob nun er in der Gesellschaft versagt hat oder ob die Gesellschaft, an deren Abstraktion er Rache nahm, ihn zum Versager machte. Dies läßt sich nicht nur aus der Tatsache schließen, daß er, als das Adrenalin nachließ, noch für genügend Zweifel und Mitleid zugänglich war, die Polizei vor seiner Bombenwohnung zu warnen und damit seine Scorerpunkte zu minimieren, sondern erklärt vielleicht auch die totale Zerrüttung des Angeklagten bei seiner Richtervorführung, die in merklichem Gegensatz beispielsweise zu Breiviks Prozeßgebahren steht. Daß nun die Bürgerlichen Pathologisierungen und Kulturalisierungen bemühen, um Amokläufe wie den seinen wegzuerklären, ist allerdings verständlich. Kann die Schuld nicht auf Ego-Shooter, Torture-Porn-Filme oder aggressive Musik (wie im Fall Colum­bine High School auf Marilyn Manson und Eminem) abgelenkt werden, müßte ein Zusammenhang hergestellt werden zwischen der wachsenden zivilgesellschaftlichen Gewalt und den materiellen, kapitalistischen Sozialverhältnissen. Der Kulturalismus und die Pathologisierung sind nicht bloß hilflose Erklärungsversuche von Journalisten, die soziale Widersprüche auf der Ebene der Kultur bekämpfen wollen, weil sie die ökonomischen Verhältnisse für natürlich und Studiengebühren etc. für alternativlos halten.

…”

Ingar Solty ist Doktorand am FB Politikwissenschaft der York University in Toronto und Redakteur der Zeitschrift Das Argument. In seiner Dissertation beschäftigt er sich mit der politischen Ökonomie des Rechtspopulismus in den USA

Quelle und gesamter Text: http://www.jungewelt.de/2012/07-27/023.php

 



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