Spielschuld

Zugegeben, es klingt ein klein wenig wie Hohn, den Begriff ‘Kurzgeschichte’, für das folgende Werk zu verwenden.Doch irgendwie ist es da so eine Sache mit den Definitionen…
Ich habe vor wenigen Wochen die Serie „Das Spiel seines Lebens“ gestartet. Mehr als Folge 1 kam aber auch nicht rum, wodurch ich mich entschieden habe, die Serie auf eine einzelne Geschichte zu verkürzen.

Als Inspiration diente mir das Lied „Tod und Teufel“ von Saltatio Mortis und wenn ihr das Lied bereits kennt, dann könnt ihr einige Elemente des Songs auch in dieser Geschichte wiederentdecken. Ich habe lange überlegt, wie ich eine ähnliche Geschichte in leicht modernerem Rahmen mit ein wenig mehr Seele gestalten kann. Ich hoffe, dies ist mir gelungen.

Klirrend fielen die einzelnen Scherben der Tasse auf den Boden, nachdem Angelika sie gegen die Wand geschleudert hatte.  In nur wenigen Sekunden war aus trauter Zweisamkeit ein Kriegsschauplatz geworden. Doch was hätte Thorsten  tun sollen? Drei Tage lang verschwieg er ihr bereits das leergeräumte Sparkonto. Ein Konto, dessen Geld ihnen die Renovierung ihres Hauses ermöglichen sollte. Und er war schuld an der Ödnis auf dem Auszug. Denn er war wieder schwach geworden. Erneut erlag Thorsten seiner Spielsucht.
„Wie viel?“, wollte Angelika wissen. „Wie viel von unserem Ersparten hast du wieder zum Fenster hinausgeworfen?“
Thorsten druckste rum. Sein Blick wanderte durch die Küche. Dabei prüfte er, ob sie ihm noch etwas entgegenwerfen konnte, doch der Tisch vor ihr war nun leergefegt. Verlegen starrte er daraufhin auf den Boden, ohne eine Antwort herauszubekommen.
„Nun erzähl schon. Tausend?“, hakte sie nach. „Zweitausend?“
Mühsam versuchte er zu antworten, aber er bekam nur ein leichtes Stottern heraus: „F … fünf …“
Angelika riss die Augen weit auf und Fassungslosigkeit breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Du hast unser gesamtes Erspartes verzockt?“
Sein Schweigen bestätigte ihre Befürchtung. Augenblicklich wurde es still zwischen dem Paar, keiner sagte ein Wort. Angelika schaute zu Thorsten und Thorsten schaute auf den Boden. Vielleicht, so dachte er, käme es diesmal nicht so schlimm, wie vor sechs Monaten. Da hatte sie ihm angedroht, ihn zu verlassen, wenn er nicht zu einer Therapie gehen würde. Er war gegangen und lange Zeit ging es gut. Doch dann traf er zufällig einen ehemaligen Mitspieler in der Bahn, ein Wort folgte dem nächsten und schon befand sich Thorsten wieder in der ihm so vertrauten Welt aus Karten und Würfeln.
Endlose Augenblicke verharrten sie bewegungslos an Ort und Stelle, dann seufzte Angelika kurz und entfernte sich aus der Küche. Einen kurzen Moment spürte Thorsten so etwas wie Erleichterung. Das Schlimmste wähnte er hinter sich und er hob seinen Blick und folgte ihr in Gedanken nach. Wohin ging sie wohl, fragte er sich. Er hörte Stufen knarren, also ging sie hinauf. Zum Schlafzimmer, vermutete er. Den Schock verdauen, sich erst einmal einschließen und den Rest der Nacht die Nähe ihres Mannes scheuen. Damit konnte er leben. Schlief er halt auf der Couch im Wohnzimmer. Thorsten betrat den Flur und hörte seine Frau oben umhergehen. Er ging weiter bis zum Wohnzimmer und setzte sich im Dunkeln auf die Couch. Seelenruhig horchte er hinauf. Vielleicht bestand doch Hoffnung für diese Nacht. Vielleicht hatte sie eingesehen, dass sie ihren Mann nicht ändern konnte. Es war doch nur Geld, sagte er sich, solange sie sich hatten.
Ihre Schritte kehrten auf die Treppe zurück. Knarrend, diesmal schwerfälliger, kam Angelika herunter und blieb dann hinter ihm stehen. Er wandte seinen Kopf um und sah sie schwach von der Lampe aus der Küche angestrahlt mit einem großen Koffer in der Hand im Flur stehend. Durch das diffuse Licht, das sich in ihren blonden Haaren brach, und den kleinen Reflexionen auf ihrer Wange wirkte sie wie ein Engel auf ihn. Aber er starrte sie nur ratlos an.
„Ich fahre zu meiner Schwester. Wir brauchen dringend Abstand voneinander. Ich brauche Abstand“, sagte sie und verschwand aus dem Türrahmen.
Thorsten reagierte gar nicht, er fixierte noch immer den Punkt im Flur, an dem sie gestanden hatte. Erst als das Klimpern der Autoschlüssel in seinen Ohren hallte, kam er zur Besinnung und sprang auf. Mit einem Hechtsprung erreichte er den Flur, gerade als sie die Tür aufschloss und den Koffer auf die Veranda stellte.
„Du kannst doch nicht …“, stammelte er. Angelika drehte sich nicht zu ihm um. Sie sagte kein Wort. Sie ging einfach nur raus und schloss die Tür hinter sich zu.
Wie ein angeleinter Hund beobachtete Thorsten sein Herrchen durch die Glasscheibe in der Tür, wie sie in ihren Wagen stieg, die beiden Scheinwerfer die Dunkelheit durchschnitten und sie die Auffahrt davonfuhr.
Thorsten machte keine Anstalten, ihr zu folgen. Wortlos beobachtete er, wie Angelika in der Finsternis mehr und mehr Abstand zwischen ihrem Auto, ihrem Haus und ihrem Mann brachte. Als sie vollends verschwunden war, jagte er wirren Gedanken in seinem Kopf hinterher. Was war geschehen, fragte er sich, während er den Flur entlangschlich und in die Küche zurückkehrte. Angewurzelt blieb er neben dem Tisch stehen. Sie konnte ihn nicht einfach verlassen. Sie waren füreinander geschaffen. Jahrelang half sie ihm durch seine Störung und erlebte alle Höhen und Tiefen mit ihm. Dies war nur eine weitere Untiefe, die es zu umschiffen galt. Sie wird zurückkehren, sagte er sich. Denn sie brauchte ihn genauso, wie er sie brauchte.
Er betrachtete angestrengt die kahle Wand, an der nun ein großer, hellbrauner Fleck in der Tapete prangte. Der Fleck war noch feucht und roch nach Kaffee. Stimmt, schoss es ihm durch den Kopf, dort war die Tasse zerschellt. Er näherte sich der Stelle und sah die Scherben verteilt auf dem Boden liegen. Wie kleine Riffe lagen sie verstreut im letzten Rest des in der Tasse befundenen Kaffees und Thorsten griff zur Spüle und riss ein paar Küchentücher von der Rolle. Vorsichtig schob er die Scherben zusammen und der Kaffee sog sich in das Papier hinein. Als er den Boden einigermaßen getrocknet hatte, legte er die Scherben behutsam auf das Tuch, wo sich letztlich jeglicher Überrest der Tasse wiederfand.
Thorsten ging mit den Scherben in der Hand zum Mülleimer, als er plötzlich innehielt. Es war die eine Tasse gewesen. Die Tasse, die er ihr zu ihrem ersten Rendezvous geschenkt hatte, als Symbol dafür, wie sie sich in einem Café kennengelernt hatten. Es waren nur Sonnenblumen drauf, aber dennoch liebte Angelika diese Tasse. Und nun war sie kaputt. Er betrachtete die Splitter genauer. Die Sonnenblumen waren allesamt zerstört. Auch daran war er schuld.
Plötzlich vernahm er ein lautes Brummen von der Vorderseite des Hauses. Sie ist wieder da, hoffte er und warf die Tasse achtlos in den Eimer. Er hastete eilig zur Haustür und spähte durch die Scheibe. Doch es war nur ein Lastwagen, der die Straße entlangfuhr. Seufzend sagte er sich, dass sie bald zurückkehren wird, und drehte sich auf der Stelle stehend um. Nur wenige Schritte konnte er sich von der Tür entfernen, als ein heller Lichtschein durch das Fenster seinen Hinterkopf traf und somit wieder seine Aufmerksamkeit entfachte. Neugierig verharrte er auf der Stelle und lauschte. Schritte kamen die Verandastufen hinauf und ein Schatten erschien im Lichtschein. Es klopfte.
Angelika konnte es nicht sein, erkannte Thorsten, denn der Schatten gehörte eindeutig einem Mann. Nur langsam kam er der Bitte um Einlass nach und näherte sich der Tür. Der Schatten bewegte sich indes keinen Zentimeter.
Kaum öffnete Thorsten die Tür, schlug ihm schon ein intensiver Gestank entgegen. Ein bestialisches Brennen entfachte sich in seinen Schleimhäuten und jede Faser seines Körpers zog sich zusammen. Er musste sich Mühe geben, nicht in Ohnmacht zu fallen.
Im grellen Licht eines Autos konnte er den Mann vor ihm nur schwer erkennen, denn es leuchtete direkt in die Wohnung hinein und blendete Thorsten. Der Kerl vor ihm trug einen Anzug der Marke Überheblichkeit. Nur Neureiche und Angeber leisteten sich einen solchen Fummel und die rote Farbe des Stoffes zeugte noch mehr von der abgehobenen Art ihres Trägers. In der rechten Hand hielt der Mann eine glimmende Zigarre fest zwischen Zeige- und Mittelfinger umschlossen. Wahrscheinlich roch sie so streng.
„Ja, bitte?“, fragte Thorsten und hielt sich die Hand vor Augen, um gegen das Licht noch mehr erkennen zu können.
„Oh, entschuldigen sie“, sagte der rote Anzug mit nasaler Stimme und wandte sich um. Mit der Hand deutete er jemandem ein Zeichen und das Licht erlosch. Für einen kurzen Augenblick konnte Thorsten nun gar nichts sehen, doch seine Augen gewöhnten sich schnell an die Umstellung.
„Einen wunderschönen guten Abend“, setzte die Stimme fort, „Ich will mit ihnen über ihre Zukunft sprechen.“
„Ist es nicht ein wenig spät für die Zeugen?“, fragte Thorsten gereizt. Nun konnte er den Besucher besser erkennen.
Der rote Anzug war nichts im Vergleich zu der blauen Krawatte, die ihm entgegen sprang. Der Besucher war genauso groß wie Thorsten und sie konnten sich daher auf Augenhöhe begegnen. Trotzdem wirkte der Körper des Fremden irgendwie gedrungen oder nicht wirklich korrekt. Zumindest kam es Thorsten so vor. Als der Mann seine Zigarre zum Mund führte, sah Thorsten sowohl die vergilbten Fingernägel, als auch die vergilbten Zähne aufblitzen. Zusammen mit dem breiten Gesicht, den kurzgeschorenen Haaren und dem hervorstechenden Blick wirkte er furchteinflößend.
„Zeugen“, sagte der Fremde, „sind nicht mein Metier. Ich bin da eher ein paar Stockwerke tiefer ansässig.“
Der Mann war ihm zuwider, also versuchte Thorsten ihn so freundlich es nur ging abzuwimmeln. „Wenn sie mich entschuldigen, aber der Tag war sehr stressig. Es ist spät und ich habe keine Elan für Besuch.“
„Und trotzdem machst du die Tür auf, Thorsten“, sagte der Mann und setzte ein schiefes Grinsen auf, während er an der Zigarre sog und ihm tief in die Augen schaute.
„Macht der Gewohnheit… Wer sind sie?“, fragte er, der den Kerl noch nie zuvor gesehen hatte. Ganz ab davon, dass er nicht erraten konnte, was er von ihm wollte.
„Alles zu seiner Zeit, Thorsten“, sagte der Kerl. „Darf ich eintreten?“
„Das könnte ihnen so passen.“ Thorsten war nun leicht gereizt. Am liebsten hätte er den Mann am Kragen gepackt und hochkant von seiner Veranda gejagt.
Der Mann seufzte: „Damals wart ihr auch freundliche zu mir.“
„Kennen wir uns?“, fragte Thorsten von dieser Bemerkung irritiert. Er kramte in seinen Erinnerungen, aber keines der abgespeicherten Gesichter stimmte mit diesem überein.
„Ich kenne dich, Thorsten. Und mich wirst du noch kennenlernen. Wir werden noch genug Zeit miteinander verbringen.“
Ein Schauer überzog seinen Rücken. Je länger er den Mann anschaute, desto mehr ängstigte der Kerl ihn. Und der bestialische Geruch kam nicht von der Zigarre.
„Ich würde sie jetzt bitten zu gehen“, versuchte er noch einmal den Fremden loszuwerden und symbolisch schob er die Tür ein Stückchen weiter zu.
Der Mann allerdings legte seine Hand auf den Rahmen und sagte: „Schenke mir fünf Minuten deiner Zeit und du wirst Angelika wieder bekommen.“
Thorsten hielt inne. Woher kannte der Mann ihn und seine Frau?
„Darf ich jetzt reinkommen?“, hakte der Fremde nach. „Wäre ich nicht hier, wärst du auch schon längst wo anders. Ich bin nur zu deinem Besten hier, das kannst du mir glauben.“
Auch wenn Thorsten nur wenig von dem verstand, was der Mann sagte, öffnete er ihm die Tür wieder ein Stückchen und gewährte ihm Einlass.
„Verbindlichsten Dank!“, sagte sein Besucher höflich und zog mit der Hand einen eingebildeten Hut, als er hineinschritt. Der Gestank folgte ihm. Als Thorsten die Tür schloss, konnte er noch einen Blick auf den Wagen erhaschen, der ihn vorher so geblendet hatte. Das Auto war schwarz, ein Mercedes, so schätzte er. Und auf der Fahrerseite saß eine dunkle Gestalt, die Thorsten nicht richtig erkennen konnte.
„Ah, ein Tisch.“, erklang die Stimme des Fremden hinter ihm und er wandte sich um. Der Mann verschwand in dem Moment in der Küche. Thorsten folgte ihm.
Der Besucher saß bereits zu Tisch, als Thorsten die Küche betrat.
„Wer sind sie?“, fragte er.
Murrend schüttelte der Mann den Kopf. „Also in den alten Zeiten, da hat man dem Gast erst etwas zu trinken angeboten, bevor man das Gespräch startet.“
„Dafür habe ich jetzt keinen Nerv“, sagte Thorsten ehrlich.
„So ist das heute“, ergänzte der Fremde, „Alle verändert sich und ich muss zusehen, wo ich meinen Schnaps herbekomme. Dann setz dich, Thorsten, damit wir beginnen können.“
„Beginnen womit?“, fragte er.
„Ach so, ich vergaß.“ Der Mann kramte in der Innentasche seines roten Anzugs. Durch ihn kam der braune Fleck auf der Tapete hinter ihm noch mehr zur Geltung. „Das kommt davon, wenn es keinen Schnaps gibt. Bringt meine ganze Organisation durcheinander.“
Thorsten beobachtete, wie der Fremde vorsichtig ein Handy aus der Tasche zog. Dann drückte er ein paar Knöpfe, das Telefon gab ein Piep von sich und dann wandte er sich wieder seinem Gastgeber zu.
„Langsam müsstest du doch wissen, wer ich bin?“, fragte er.
„Erzählen sie es einfach, dann geht es schneller.“
„Nur mal sachte mit den jungen Pferden. Geduld ist ein Tugend, kommt Zeit kommt Rat, oder was ihr sonst noch an Sprichwörtern drauf habt“, sagte der rote Anzug und lachte.
Verärgert setzte sich Thorsten an den Tisch und stierte den Mann an.
„Also“, fuhr der Fremde fort, „Ich bin hier, weil du sonst just in diesem Augenblick das Steakmesser zu deiner Rechten durch deine Schlagadern geführt hättest.“
„Was?“, brachte Thorsten irritiert heraus und schaute zu besagtem Messer.
„So ist es, Junge. Du hättest Selbstmord begangen. Und das ist unglaublich schlecht fürs Geschäft“, sagte der Mann.
„Woher wollen sie das wissen?“, fragte Thorsten mit einer Mischung aus Wut und Furcht in der Stimme.
Der Mann blickte auf sein Handy. „Steht in meinen Akten. Wenn es nicht so wäre“, und nun schaute er wieder zu Thorsten, „dann wäre ich gar nicht hier hergekommen. Ich kann mir besseres vorstellen, als hier bei dir rumzusitzen und mir den Stress anzutun.“
„Sie verschwinden jetzt“, forderte ihn Thorsten auf. „Oder ich rufe die Polizei.“
Der Mann schüttelte heftig den Kopf, bevor er antwortete: „Du brauchst echt lange, oder? Ich bin es, der Leibhaftige selber. Der Antichrist, Luzifer, Teufel, egal wie du mich auch nennen magst. Nur nenn mich nicht Satan. Den Namen kann ich nicht ausstehen.“
„Also nun reicht es“, sagte Thorsten und sprang auf. „Ich rufe jetzt an.“
Doch gerade als er aus der Küche verschwinden wollte, flackerte die Lampe hinter ihm, irritierte ihn, so dass er kurz innehielt und in genau diesem Augenblick der Bereich des Türrahmens von einer kleinen Feuerwand gesäumt wurde. Erschrocken wankte er ein paar Schritte zurück und stieß gegen die Arbeitsplatte der Küche, wobei der Messerblock zur Seite kippte und das Steakmesser scheppernd auf den Boden fiel. Nun blickte er zitternd und schwitzend zwischen Messer, Mann und flammender Mauer hin und her.
„In den alten Zeiten hat man mir direkt geglaubt“, seufzte der Teufel und machte eine Handbewegung. Der Stuhl, auf dem wenige Sekunden zuvor Thorsten gesessen hatte, schob sich einen Meter vom Tisch weg. „Setz dich bitte.“
Einen kurzen Moment blieb er stur stehen. Doch dann schwankte er vorsichtig zum Stuhl zurück. Dabei fiel sein Blick auf die Scherben der Tasse im Mülleimer und er fragte sich, ob er wirklich beabsichtigt hatte, sich umzubringen. Traute er sich das zu?
„Wir haben noch etliches zu klären“, setzte Luzifer fort. „Und die Zeit arbeitet nicht gerade für dich.“
Dann zog er aus seiner Tasche eine kleine Sanduhr hervor und stellte sie auf den Tisch.
„Sobald ich diese Uhr umdrehe, haben wir noch fünf Minuten. Dann ist das Spiel zu Ende.“
„Welches Spiel?“, fragte Thorsten konzentriert. Seine Situation war schlecht und der Teufel saß ihm gegenüber. Ein Spiel passte da nicht so recht ins Schema.
„Hör mir genau zu, Thorsten“, sagte der Teufel. „Ich werde mich nicht wiederholen und an deiner Stelle würde ich meine Zeit nicht damit verschwenden dieselbe Frage wieder und wieder zu stellen. Die Antwort bleibt dann doch die gleiche. Haben wir uns soweit verstanden?“
„Ja“, antwortete Thorsten kurz und knapp.
„Gut. Fakt ist, ich komme ab und an zu einem Menschen herauf, der vorhat sein kümmerliches Erdendasein vorzeitig aufzugeben. Dies wirft nämlich mich und den komischen Kerl am anderen Ende des Flurs in ein wahres Chaos an Papierkram.“
„Papierkram?“, unterbrach Thorsten ihn verwirrt.
„Metaphorisch gesprochen. Wenn einige Christen bei euch glauben, ihr kommt dann auf direktem Wege zu mir, dann irren sie. Denn bei einem Selbstmord fehlt die Kategorisierung in Gut und Böse. Entweder ihr beendet euer kümmerliches Dasein und vollbringt damit aus logischer Sicht betrachtet sogar eine gute Tat, oder ihr verschenkt aus rein irrationalen Gründen die euch gegebene Chance auf Leben. So etwas wirft man doch nicht einfach weg. Oder würdest du Geld auch achtlos in den Müll schmeißen?“
Thorsten schüttelte den Kopf.
„Letztere begehen eine ganz klare Sünde und kommen ohne Umschweife zu mir. Aber die erstgenannten Vertreter sind leider eine andere Geschichte. Wir müssen hier jeden Einzelfall aufs Genauste untersuchen, ob und wohin ihr nun kommen dürft. Irgendwann haben wir dann der Einfachheit halber entschlossen, den Bürokratiewahnsinn zu entsorgen und das Übel bei der Wurzel zu packen.“
„Ihr verhindert den Selbstmord?“
„So ungefähr. Wir intervenieren und verändern damit die Seele des Menschen. Entweder ihr seid danach neue Lebewesen, oder tot.“
„Und wie stellt ihr das an?“
„Tja“, sagte Luzifer, „wir gehen eine Art Pakt ein. Ihr Menschen spielt gegen mich um eure Seele. Wenn ihr gewinnen solltet, dürft ihr weiterleben. Verliert ihr, nehme ich euch postwendend mit mir nach Hause. Simpel, oder?“
„Ich versteh den Sinn noch nicht richtig“, sagte Thorsten.
„Für euch Menschen gibt das nur eine zweite Chance auf Erden. Hat sich der Andere ausgedacht. Ich spiel nur mit, da ich euch so gerne leiden sehe“, antwortete der Teufel mit einem Grinsen.
Thorsten dachte nach. Vielleicht träumte er das nur. Vielleicht würde er jeden Augenblick aufwachen, neben seiner Angelika liegen und all das hier wäre bloße Einbildung. Doch dann sah er, wie Sand durch die Uhr rieselte und er erschrak.
„Warum läuft die denn bereits?“, fragte er hastig.
„Weil das zum Spiel gehört. Du musst mich bis zum Ablauf der Zeit bezwingen, sonst …“
„Aber was ist denn das Spiel?“, fragte Thorsten mit Blick auf die Uhr. Wie lange mag sie noch laufen? Drei, zwei Minuten?
„Simpel“, sagte Luzifer, holte aus seiner Tasche drei Würfel raus und reichte ihm einen. Sie bestanden aus einem seltsamen Material und fühlten sich beinahe nach Wachs an.
„Würfel!“, forderte der Teufel ihn auf.
Thorsten stockte der Atem. Nun kam es wohl darauf an. Er wollte nicht sterben, da war er sich ganz sicher. Und nun spielte er um sein Leben. Mit stinknormalen Würfeln. Es half nichts, er musste mitspielen. Der Würfel rollte von seiner Hand und kullerte einige Zentimeter über die Tischplatte bis er zum Erliegen kam. Drei Punkte, eine Drei. Kein allzu guter Wert, bezweifelte Thorsten und stöhnte.
Dann rollte auch schon der Würfel des Teufels über den Tisch. Kraftvoll und um einiges länger bewegte sich das Spielgerät über die Platte und landete letztendlich kurz vor der Kante. Es war eine Fünf.
Schwitzend und regungslos starrte Thorsten auf den Würfel. Er hatte verloren. Sein Leben wäre nun nicht mehr. Keine Gelegenheit sich mit Angelika auszusöhnen, mit ihre eine Familie zu gründen, mit ihr alt zu werden.
„Ich beginne also“, sagte der Teufel und blitzschnell war Thorsten wieder bei Verstand. Der Teufel griff über die Platte, nahm beide Würfel und legte sie zum dritten in die rechte Hand.
„Das war noch nicht das eigentliche Spiel?“, wollte Thorsten sich vergewissern.
„Nein“, antwortete sein Kontrahent kurz und knapp und schaute auf die Sanduhr. „Nicht viel Zeit“, fügte er noch hinzu.
Auch Thorsten blickte zur Uhr, aber ihm schien das Spiel ewig anzudauern. Es war wahrscheinlich noch eine Minute. Und die schlich wie eine Schildkröte dahin.
Luzifer holte aus. Seine Wurfbewegung war zackig und die Würfel schienen regelrecht vor seiner Hand zu fliehen. Auf hastigen Kursen schlingerten sie Thorsten entgegen und hielten genau vor ihm an.
„Ah“, jauchzte Luzifer beim Anblick der drei Sechsen. „Genau meine Zahl. Heut bin ich aber wieder drauf.“
Während der Teufel seinen Sieg schon feierte, versank Thorsten in eine tiefe Grube. Er hatte verloren, das stand so gut wie sicher fest. Wie groß war wohl die Wahrscheinlichkeit, einen Ausgleich mit ebenfalls drei Sechsen zu erwirken? Und hatte er dafür überhaupt genug Zeit?
Sein Blick wanderte zur Uhr. Nicht mehr viel Sand war in der oberen Kammer vorhanden. Bald wäre seine Zeit abgelaufen. Keine Chance mehr, sagte er sich, das wird mein Ende sein.
Keine Gelegenheit auf Buße, keine Gelegenheit mehr sich wirklich zu ändern. Wie sollte man ihm denn auch verzeihen? Er hatte abermals Angelikas Vertrauen missbraucht, zerbrach abermals jede Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Es war nur gerecht, wenn er starb.
Doch kampflos würde er nicht aufgeben. Zitternd ergriff er die drei Würfel vor sich. Sie fühlten sich matschig in seinen von Angstschweiß erkalteten Handflächen an. Nur noch wenige Körnchen trennten ihn von der Niederlage. Wenigstens noch werfen, sagte er sich.
Der Teufel beobachtete das Geschehen hingebungsvoll. Erstaunen flog über sein Gesicht, als er sah, wie Thorsten zu den Würfeln griff. Aber dies sah Thorsten nicht, denn er fokussierte sich nur auf den Wurf.
In weiter Ferne klackerten die Würfel über die Tischplatte. Wie in Trance verfolgte Thorsten ihre Bahn. Doch plötzlich standen sie still. Mitten in der Bewegung, auf der Kante stehend hielten die Würfel ihre Balance. Zuerst dachte Thorsten, dies wäre die Einleitung seines Untergangs und er schaute zur Sanduhr, aber auch sie verharrte eisern in der Zeit. Nur noch wenige Sandkörner bevölkerten die obere Kammer, aber sie rührten sich nicht von der Stelle. Es ging nicht abwärts.
Dann spürte Thorsten eine Berührung auf der Schulter. Ein eiskalter Schauer raste durch jede Zelle seines Körpers und er wagte es nicht, hinzuschauen.
Der Teufel saß ihm gegenüber und mit verärgerter Miene. „Was soll das?“, schnauzte er die Person hinter Thorsten an. „Du hast kein Recht einzugreifen.“
Langsam löste sich Thorsten aus seiner Schockstarre und riskierte einen Blick auf die Gestalt hinter seiner Schulter, die ihre Hand noch immer darauf gelegt hatte. Und auch wenn er ihn vorher nur undeutlich im Wageninneren gesehen hatte, wusste er, dass es sich um den Fahrer handeln musste.
Der Fahrer trug einen schwarzen Anzug, weißes Hemd und schwarze Krawatte. Sein Gesicht war kalt, aber wirkte dennoch beruhigend auf Thorsten. Der Mann war der komplette Gegenentwurf zum Teufel.
„Bist du Gott?“, stammelte Thorsten.
Doch der Mann schaute ihn nur an und schüttelte den Kopf, dann wandte er sich wieder Luzifer zu.
„Das war ein übler Trick“, hauchte er.
„Ach, komm schon“, fauchte der Teufel erbost und sprang auf, aber der finstere Mann hob nur die Hand und schlagartig war der Fürst der Unterwelt still.
„Auch du darfst dich nicht über das Gesetz stellen. Ich bin für die Gerechtigkeit zuständig und  beende hiermit dieses Spiel“, sagte er.
Flüche vor sich hinmurmelnd verließ der Teufel die Küche. Für einen kurzen Augenblick war Thorsten mit der finsteren Gestalt allein.
Er fasste allen Mut und fragte ihn: „Bist du der Tod?“
Die einzige Antwort des Mannes war ein Lächeln, dann ging er wortlos fort und folgte dem Teufel. In der Küche hörte Thorsten, wie sich der Motor ihres Wagens entfernte und Stille einkehrte. Ruhig saß er auf dem Stuhl und dachte nach. Auf dem Tisch lagen die drei Würfel, aber ihre Zahlen hatten keine Bedeutung mehr. Er nahm sie in die Hand, stand auf und wollte sie wegschmeißen, als er die Scherben der Tasse im Mülleimer entdeckte. Sachte legte er die Würfel beiseite und zog vorsichtig das Tuch mit den einzelnen Stücken heraus. Behutsam drapierte Thorsten die Scherben auf der Küchenanrichte. Er öffnete eine Schublade und holte eine kleine Tube Sekundenkleber hervor. Die Nacht war noch lang und für Thorsten gab es genug wieder gutzumachen.

PS: Hier habt ihr einen Link zu erwähnter Inspirationsquelle – Tod und Teufel – Saltatio Mortis


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