Spanische Protestbewegung: Voraussetzungen und Perspektiven (2)

Wie soll sich die politische Linke zur Bewegung 15. Mai stellen? Mit der Übersetzung der zweiten von drei Analysen spanischer Intellektueller zu den Protesten in ihrem Land sollen auch die deutschsprachigen LeserInnen die Gelegenheit erhalten, ihr Verständnis der Ereignisse – gleichsam aus Innensicht – zu vertiefen.

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Die Repolitisierung ist eine Revolution

Santiago Alba Rico

Ich glaube, grundsätzlich sollte man drei Fragen zu beantworten versuchen.

Ist die Bewegung 15. Mai eine Revolution?
Nein, ganz offensichtlich nicht. Die Bewegung 15. Mai hat weder das System umgestaltet noch eine Regierung gestürzt. Sie hat nicht einmal eine wirkliche Konfrontation bewirkt. Und trotzdem gibt es historische Umstände, in denen der einzige Wandel, den man erzielen kann – und das ist enorm –, etwas sehr Einfaches und Unerwartetes ist, nämlich dass überhaupt etwas geschieht. Ein Wunder ist schlicht ein Ereignis, das zwar nicht gegen die Naturgesetze verstösst, aber gegen die Erwartungen der Menschen – und in diesem Fall gegen das Unerwartete. Die Tatsache, dass es weder die Rechte noch die Kirche ist, die die Strasse in Beschlag nimmt, so wie es zuweilen in den letzten Jahren geschah, die Tatsache, dass „wilde Demokraten“ die Plätze erobern und in Zentren der politischen Alphabetisierung verwandeln, ist für sich selbst ein so kleiner Erfolg und doch so gross in seinem Kontext, dass wir in sehr treffender Art von einem Fastnichts sprechen können, aus dem alles entsteht – oder entstehen kann. Und in Bezug auf das Selbstverständnis der Bewegung gibt es etwas sehr Bezeichnendes anzumerken: Es ist keine Revolution, doch die Protagonisten sprechen öffentlich von Revolution, ein Begriff, der in die Geschichtsbücher und die Werbesprache verbannt wurde. Die Repolitisierung ist eine Revolution. So erleben es die Demonstrierenden. Und auch Wortprägungen leiten Veränderungen ein, zumindest auf der Ebene des Bewusstseins.

Steht die Bewegung 15. Mai links?
Nur von der Möglichkeit her. Ähnlich wie es in der arabischen Welt mit den linken und islamistischen Kräften geschieht, erwischt die Bewegung 15. Mai alle etwas auf dem falschen Fuss. Dass sie nicht links steht, beweist die Tatsache, dass sie bei den Wahlen weniger der PP denn der PSOE geschadet hat und dass die UPyD [Unión Progreso y Democracia, dt. Union Fortschritt und Demokratie] profitieren konnte, eine autoritäre und ultranationalistische Partei mit einem äusserst populistischen demokratischen Diskurs, der aber völlig von ökonomischen und sozialen Inhalten entleert ist. Auch die starke Unterdrückung – und Selbszensur – politischer Begrifflichkeit weisen darauf hin, ebenso das Beharren auf dem Konsens und der überwiegend fröhlich-selbstbezogene Charakter der buntscheckigen Versammlungen, bei denen die Konfrontation (mit dem System, das sie herausgefordert haben und weiterhin herausfordern) um jeden Preis vermieden wird.

Soll die Bewegung 15. Mai von der Linken unterstützt werden?
Zweifellos! Das ist eine einzigartige, unverhoffte, äusserst glückliche Fügung. Denn alles, was vorher gesagt wurde, ist weniger bedeutsam als die Tatsache, dass die Strassen sich in Schulen verwandelt haben. Die Spontaneität hat sich in überaus ernsthafte und aktive Arbeitsgruppen verfestigt, in denen nun der ganze Schatz an Militanz und Kenntnissen, den sich die Linke unter schwierigsten Bedingungen angeeignet hat, ein Publikum findet, das wenig Kenntnisse hat, aber bereit ist zuzuhören und zu lernen. Was die Bewegung 15. Mai in Gang gesetzt hat, ist ein riesiger politischer und organisatorischer Lernprozess, der nun radikalisiert werden muss. Die Voraussetzungen sind da: Die Schleifung der Demokratie schockiert zweifellos, erfolgt diese doch nicht durch Betrug, nicht durch Manipulationen und Lügen (zumindest nicht nur), sondern durch Wirtschaftsstrukturen, die ebenso den demokratischen Charakter der Institutionen unterlaufen, wie sie im Sozialen und im Arbeitsleben verheerend wirken. Auf intuitiver Ebene weiss man bereits, dass der Kapitalismus ein Feind der Demokratie ist. Sich von all dem in einem Augenblick zu distanzieren, in dem die antikapitalistische Linke marginalisiert ist – um nicht zu sagen: geradezu besiegt –, wäre ein grosser Fehler. All dies beginnt ja erst, und wir müssen dabei sein. Man wählt nicht die Gelegenheiten, vielmehr bieten sie sich historisch als Folge von Unbehagen, von Fehlern, ja sogar von Wahnvorstellungen. Diese Bewegung ist eine Gelegenheit; nicht die, die wir uns gewünscht hätten, sondern die, die uns das Zusammenspiel von eigenen Anstrengungen, Zufall und Unzufriedenheit bietet. Wenn sich Wasser plötzlich und entgegen jeder Voraussicht in Wein verwandelt, dann bitten wir nicht auch noch darum, dass es möglichst Rioja sei. Freuen wir uns und gehen wir an die Arbeit, damit die Ernte gut wird!

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Santiago Alba Rico (Madrid, geboren 1960) studierte Philosophie an der Universidad Complutense in Madrid. Zwischen 1984 und 1991 war es Drehbuchautor bei drei spanischen Fernsehprogrammen, darunter bei der bekannten Sendung La Bola de Cristal [Die Kristallkugel]. Seit 1988 lebt er in arabischen Ländern, wo er Werke des ägyptischen Poeten Naguib Surur und später des irakischen Romanautors Mohammed Jydair übersetzte. Er war auch Drehbuchautor des Films Bagdad-Rap (2004) und schrieb das Theaterstück B-52, das 2010 aufgeführt wurde. In den letzten Jahren arbeitete er bei unterschiedlichsten Medien, bei digitalen ebenso wie bei Printmedien (z.B. beim bekannten alternativen Informationsnetz Rebelión, bei Archipiélago, Ladinamo, Diagonal). Er ist Autor einer Vielzahl von Büchern, die in Spanien und Lateinamerika veröffentlicht wurden und für die er wichtige Preise und öffentliche Anerkennung erhielt.

Der Originaltext kann auf dem Blog La pupila insomne eingesehen werden. Besten Dank an Iroel Sánchez Espinosa!

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Persönliche Anmerkung: Zu diesem Text habe ich ein einigermassen zwiespältiges Verhältnis. Trotzdem habe ich mich entschlossen, dessen Übersetzung zu veröffentlichen, zeigt die Analyse von Santiago Alba Rico doch exemplarisch, wie eine zivilgesellschaftliche Bewegung – und um eine solche handelt es sich bei der Bewegung 15. Mai zweifellos – droht, von der Politik vereinnahmt und instrumentalisiert zu werden. Die Zivilgesellschaft stellt aber neben der Politik und der Wirtschaft eine dritte, eigenständige Kraft dar, die in dieser Form nicht untertschäzt werden darf. Siehe dazu Die Zivilgesellschaft als dritte globale Kraft.


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