Simon Boccanegra à Strasbourg (c) Photo: Alain Kaiser
Keith Warner, einer der wichtigsten britischen Regisseure, ist derzeit in Straßburg mit seiner Inszenierung von Simon Boccanegra zu sehen. Marc Clémeur hat Warner eingeladen, Giuseppe Verdis Oper an der Opéra national du Rhin zu inszenieren und fügte mit dieser Aufführung eine weitere Perle in die Kette der Produktionen unter seiner Direktion hinzu.
Man möchte meinen, Clémeur sucht die Partner seiner Neuinszenierungen wie mit einem Magnet, welches die berühmten Stecknadeln aus dem Heuhaufen fischt. So passgenau fügt sich eine Aufführung an die nächste, dass man, würde man die Produktionen nicht live mitverfolgen können, dennoch erahnen können, dass sie alle in Straßburg stattgefunden haben. Richard III, Jenufa oder Macbeth, um nur einige Neuinszenierungen der letzten Saison zu nennen, gingen Verdis Boccanegra bereits voraus. Sie alle waren gekennzeichnet durch eine stringente, spannende Reduktion des Bühnenbildes und einer tiefen Persönlichkeitsanalyse der darin vorkommenden Personen.
Exakt dasselbe Rezept verfolgt Warner in seiner Interpretation rund um das Leben und Sterben des einstigen Dogen von Genua. Aus Korsika stammend gelang es Boccanegra mithilfe von Ränke schmiedenden Freunden die Wahl zum Dogen zu gewinnen, allerdings nicht sein persönliches Glück zu finden. Die Ironie des Schicksals will es, dass sein Erzfeind – Jacopo Fiesco – zugleich der Großvater Boccanegras Tochter, diese in Unwissenheit ihrer familiären Zugehörigkeit aufzieht, während er seinem vermeintlich verschollenen Enkelkind nachtrauert. Die in sich verschlungene Geschichte, die Verdi ganz bewusst so gesetzt hat, dass viele sie nicht auf Anhieb verstehen, verweist auf Lebenserfahrungen vieler Menschen, quer durch alle Zeiten. Vieles, was uns einmal klar und deutlich erschien wird im Laufe unseres Lebens bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, ins Gegenteil verkehrt oder gerät in Vergessenheit. Simon Boccanegra, jene Oper, die oftmals auf politische Aussagen reduziert wird, verliert bei Warner zwar nicht ganz diesen Bezug, stellt ihn jedoch zumindest nicht in den Mittelpunkt. Was ist Macht, wie wird sie gestürzt und wieder inthronisisert aber vielmehr noch, wie geht es den Menschen dahinter damit? Haben sie ein Recht auf ein persönliches Leben, abseits ihrer Pflichten und sind sie fähig zu erkennen, dass Menschenleben in ihren Händen liegen? All das sind tiefgreifende Lebensfragen, die sich nicht nur die Mächtigen auch unserer Zeit stellen, sondern auch all jene stellen müssen, die an Schnittstellen agieren, die sie mit diesen Mächtigen verbinden. Und all das sind Fragen, die Warner in Zusammenhang mit Simon Boccanegra aufwirft. Paolo Albiani, mit kraftvoller Stimme von Roman Burdenko verkörpert, der einstige Freund Boccanegras, der zum Schluss sein schlimmster Feind wird, kann seine vermeintliche private Niederlage nicht von seiner Position trennen, die es ihm erlaubt, ganz nah am Machtzentrum zu agieren. Verdis Figuren sind in dieser Oper nicht schwarz-weiß angelegt. Sie agieren, je nach Verfassung und Zeit so, wie es ihnen möglich ist zu agieren. Sie hassen und sie lieben zugleich, sie schwören Treue und scheuen sich nicht, Menschen umzubringen, sie verdammen und begnadigen und zeigen so, jeder auf seine Art und Weise klar und deutlich, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.
Das von Boris Kudlicka entworfene Bühnenbild, das sich mit den Kostümen perfekt verschränkt, entführt in das Italien des 15. Jahrhunderts genauso wie in ein architektonisch puristisches Szenario unserer Zeit. Graue Businessanzüge und Renaissancekostüme stehen in trauter Zweisamkeit nebeneinander, getragen von Menschen, deren Sehnsüchte, Hoffnungen, deren Liebe und Hass über die Jahrhunderte gleich geblieben zu sein scheinen. Der Thron von Boccanegra und jener der Grimaldis, einem verfemten Geschlecht – diese beiden auf ein Minimum geschrumpften Schemel, die wie kleine, zeitgenössische Skulpturen wirken und anfänglich unterschiedliche Farben aufweisen, erstrahlen in jenem Moment in derselben Farbe und im selben Licht als Boccanegra seine verloren geglaubte Tochter Maria wieder erkennt. Dies ist ein Beispiel für die beredte Bildersprache Warners, der er sich gerne bedient. Der Palast Fiescos, zu Beginn über und über geschmückt mit den Fresken Pierro della Francescas aus der Camera degli sposi aus Mantua, verliert allmählich seine malerische Pracht, bis schließlich nichts mehr davon übrig bleibt. Fiesco sowie Boccanegra haben sich beide im Laufe ihres Lebens so verändert, dass nichts an ihnen an ihren einstigen Glanz erinnert. Doch in all ihrer Erbärmlichkeit, Hilflosigkeit und Desillusionierung werden sie dennoch erwärmt von einem inneren Glanz. Einer inneren Größe, die ihnen hilft zu verzeihen und es ihnen ermöglicht, die Macht geordnet an die nächste Generation zu übergeben.
Simon Boccanegra, jenes für Verdi in mehrerer Hinsicht nicht wirklich typsiche Werk, das dennoch voll ist von wunderbaren, wenngleich auch nur kurzen Belcantopassagen, verzaubert in Straßburg aber nicht nur aufgrund der gelungenen Inszenierung. Vor allem ist es die stimmliche Besetzung, die fast durchgehend überzeugt. Sergey Murzaev als Boccanegra und Michaeil Ryssov als Fiesco stehen sich ebenbürtig an der Spitze des Ensembles gegenüber. Der Bariton und der Bass agieren sowohl in ihren rasenden als auch in ihren lyrischen Passagen stets ausdruckskonform und erhielten durch den lang andauernden Applaus ihre berechtigte Publikumsbestätigung. Andrew Richards mit seinem hellen und klaren Tenor verweist wunderbar in die von Licht erfüllte Zukunft. Mit seinen langen Haaren und seinem kurzen, gepflegten Bart sowie seinem schlichten und dennoch im letzten Bild prächtigen Gewande erinnert er sehr an die Jesus-Darstellungen der Nazarener im 19. Jahrhundert. Zufall? Nuccia Focile als Maria, die der männlichen Phalanx versucht stimmlich die Stirne zu bieten, verkörpert glaubwürdig jene junge Frau, die als Kind durch den Tod ihrer Ziehmutter traumatisiert, später erkennen muss, dass ihr nobler Geliebter gleichzeitig den Keim eines Verräters in sich trägt.
Das symphonische Orchester von Mulhouse unter der Leitung von Rani Calderon agiert über weite Stellen der Partitur entsprechend beinahe kammermusikalisch. Calderon verweigert den Streichern fast jegliches Vibrato und begleitet die Sängerinnen und Sänger mit dem Klangkörper nur an wenigen Stellen romantisch. Dies tut der Aufführung jedoch gut, unterstreicht doch die Musik die Inszenierung von Warner perfekt. Seht und hört: Lasst Euch leiten von Eurem Wissen, aber vergesst an den wichtigen Stellen in Eurem Leben nicht auf die Menschlichkeit!
Weitere Aufführungen und Infos unter: www.operanationaldurhin.eu