Senior citizen’s darling

Schon in meiner Kindheit fing es an: Je älter die Sonntagsschullehrerin, umso überzeugter war sie davon, dass ich braver war als die anderen. Weil ich freiwillig einen Rock trug, die Bibelverse leicht auswendig lernte und nicht den Mut aufbrachte, mitzumachen, wenn die anderen Schabernack trieben. Schon damals hätte ich am liebsten laut protestiert. „Ich bin nicht so brav, wie Sie meinen“, hätte ich gerne gesagt. „Neulich habe ich in der Wut gar eine Türe eingetreten.“ Aber wer hätte mir denn geglaubt? Ich war doch so nett.

Später wieder dasselbe. Je konservativer die alten Leute, umso begeisterter waren sie von mir. Weil ich den Mund weit aufmachte beim Singen und weil ich gerne Geblümtes trage. „Du bist immer so nett“, sagten sie mir, „so anders als die anderen jungen Leuten.“ „Ich bin gar nicht so anders“, pflegte ich zu widersprechen. „Fragt mal meine Mutter, die kann euch erzählen, wie anders ich bin. Keine in der Familie knallt die Türe so heftig wie ich, keine gibt so schnoddrige Antworten.“ Aber natürlich glaubten sie mir nicht, ich war ja so nett.

An diesem Wochenende im Ländli wieder das gleiche Lied: Ich bin ja so fleissig, so bodenständig, so anders als die anderen Mütter heutzutage, die ihre Zeit mit Kaffeetrinken und Maniküre vergeuden. Ha, von wegen! Erstens sind die „anderen Mütter heutzutage“ nie und nimmer so bequem, wie ältere Leute gerne behaupten und zweitens bin ich die Erste, die sich einen Latte Macchiato schnappt, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet. Und so bodenständig und fleissig, wie die Senioren es gerne hätten, bin ich auch nicht. Ja, klar, ich koche mit Leidenschaft Quittengelee ein, aber wenn die wüssten, wann ich das letze Mal ein Bügeleisen in der Hand hielt und wie oft unser Bett am Morgen ungemacht bleibt, sie würden wohl nicht mehr so freundlich sein zu mir. Obendrein wähle ich links, bin für die Abschaffung der Armee und für die schweizweite Einführung von schulergänzender Kinderbetreuung, wenn auch mit der Einschränkung, dass die Eltern selber wählen dürfen, ob sie davon Gebrauch machen wollen oder nicht. Aber all das nimmt man mir nicht ab, ich bin ja so nett.

Zuweilen habe ich es ganz gehörig satt, von älteren Leuten immer nur für die grosse Ausnahme unter den vielen „missratenen jungen  Frauen“ gehalten zu werden, denn ich weiss nur zu gut, dass ich es nicht bin. Neben meiner netten Seite, die ich durchaus auch habe, gibt es da noch meine Launenhaftigkeit, mein aufbrausendes Temperament und meinen Hang zum Chaos. Alles nicht besonders vorbildlich, aber eben auch Teil meiner Persönlichkeit. Dazu stehe ich, denn ich halte nichts davon, den Leuten etwas vorzumachen. Früher oder später kommt ohnehin alles ans Licht, spätestens dann, wenn die Kinder beim Psychiater landen und klagen „Unsere Mutter hat immer…“. 

Warum bloss glauben mir die alten Leute nicht? Vielleicht sollte ich mich mal so aufführen wie zu Hause, dann würden sie mir glauben. Wobei man es im Ländli wohl nicht allzu gerne sähe, wenn ich in der Wut einen Teller gegen die Wand schmeisse.

Senior citizen’s darling

 



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