Sehnsucht nach stalinscher Reinheit

Es ist ein ganz eigenartiges Demokratieverständnis, das in diesen Tagen als "Empörung in der SPD" die Furore macht. Da hat eine Partei versucht, einen Mann aus ihren Reihen auszuschließen, weil nicht alle oder vielleicht nicht einmal die Mehrheit der anderen Parteimitglieder seiner Meinung zustimmen würde. Auf der Zielgeraden vor dem Rauswurf allerdings schwante den Parteioberen, dass dieser Krieg gegen die Meinungsfreiheit vermutlich nicht zu gewinnen sein wird: Keine Partei kann ihren Mitgliedern mehr abverlangen, als sich kollektiv schwammig geahnten gemeinsamen Grundwerten verpflichtet zu fühlen. Wie ein jeder diese versteht, ist dann seine Sache, so wenigstens interpretiert der geübte Demokrat Willy Brandts Forderung, "mehr Demokratie zu wagen".
Ausgerechnet in der SPD aber stößt dieses mühselige gemeinsame Leben im Widerspruch jedoch auf Vorbehalte. In der ganzen SPD? Nein, Pressestimmen zufolge sind es ausgerechnet die Genossen, die ihr Schaffen und Tun aus der eigenen Migrationsgeschichte heraus ganz der Herbeiführung toleranter Verhältnisse gewidmet haben, die bei der ersten Gelegenheit, bei der sie selbst Toleranz zeigen müssen, aus der Haut fahren. Und ihre Partei verlassen.
Etwa der Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Immigrantenverbände, die es nach Archiveinträgen seit sieben Jahren gibt, die aber derzeit zum ersten Mal öffentlich richtig auffällt. Weil ihr Vorsitzender Mehmet Tanridverdi wegen des Verbleibs von Thilo Sarrazin in der Partei seinen Austritt aus der SPD androht. Der Mann ist "zutiefst enttäuscht“, wie er der Berliner Zeitung verriet, deshalb sei "die SPD nicht länger meine politische Heimat.“ Ähnlich hält es der geschäftsführende Bundesvorstand der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Kenan Kolat. Weil er die Einstellung des Verfahrens „nicht nachvollziehen“ könne, glaube er, dass "viele Wähler nichtdeutscher Herkunft der SPD den Rücken kehren“ werden. "Ganz nebenbei provoziert man sehenden Auges den Austritt vieler überzeugter Sozialdemokraten ", warnen die Jusos in Dresden, für die ein "überzeugter Sozialdemokrat" offenbar jemand ist, der je nach Tagesform und Schlagzeilenlage ein- oder austritt.
Ja, aber muss denn eine Partei mit ehernen Grundüberzeugungen nicht alle ihre Entscheidungen so treffen, dass Wähler und Mitglieder sie dafür mögen? Und muss man nicht verstehen, dass Leiter von Arbeitskreisen, die sich "Integration und Migration der SPD" nennen, nach Ausschluss und Ausgrenzung rufen, sobald ihnen klar wird, dass neben ihnen Genossen marschieren, die gar nicht ganz genau dieselben Ansichten haben wie sie?
Es ist das kulturell etwas hochwertigere mitteleuropäische Äquivalent zum Fahnenverbrennen und Schuhe werfen, das vordemokratische Gestalten wie Seregey Lagodinsky, Gründer eines „Arbeitskreises jüdischer Sozialdemokraten”, mit dem Selbstbewusstsein von Weltenheilern vorleben. Wer nicht denkt wie ich, hat in meiner Partei nichts verloren. Wer Ansichten pflegt, die nicht die meinen sind, hat den Raum zu verlassen. Wer widerspricht, verwirkt sein Recht, zu reden. Geht es nicht nach ihrer Nase, möchten diese Spezialdemokraten nicht diskutieren, sondern anderswo weiterbestimmen. In der Hoffnung, dort sagen zu können, wo es langgeht. Ein Hauch von Sehnsucht nach Stalins kompromisslosem Kampf um Reinheit und Einheit der Partei weht durchs Land.
Krude Thesen als Grundwert


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