(Collage: Emma Isacson)
„Das ist ein wichtiger Film“, sagt Henry, als wir aus dem Kino kommen. Ich nicke unbestimmt, schweige ein paar Schritte. „Das ist ein Film, der 120 Minuten dauert“, sage ich. „Wichtig“, wiederholt Henry und dreht seinen Oberkörper zu mir. Und ich: „Ist wichtig ein Euphemismus für langweilig?“
Henry bleibt stehen, verdichtet sein bisschen Körpermasse auf eine Eindringlichkeit, die ich seinem wippenden Gang und seinem lächerlich aufgestellten Kurzhaar nicht zugetraut hätte, und klopft mit seinem Zeigefinger auf meine Brust: „Diese Geschichte ist wahr. Von den neun Mönchen wurden sieben von algerischen Fundamentalisten entführt und umgebracht. Sie hatten sich entschieden, in ihrem Kloster im Atlas-Gebirge auszuharren und der Bevölkerung im Dorf mit ärztlicher Hilfe, mit Kleidern, mit tröstenden Worten beizustehen, obwohl ihr Leben bedroht war. Mehr noch: Sie behandelten einen Verletzten der Rebellen. Den Schutz der Regierung lehnten sie ab. Sie hätten ausreisen können. Sie hätten sich in Sicherheit bringen können. Sie blieben. Sie hatten Angst. Aber sie blieben. Was hättest du gemacht? Aus Langeweile das Fernsehprogramm gewechselt und dich den Problemen von Dr. House gewidmet?“
Ich blase hörbar Luft aus, wische mir die Dellen von der Brust, lege ihm die Hand auf die Schulter: „Ist ja gut, Henry. Ich bin betroffen. Der Film ist gut gemacht. Leise und deutlich erzählt er die Geschichte der Mönche. Hier wird nichts erklärt. Hier wird alles gezeigt. Mit einem Nachdruck, der einsickert, aber nicht sticht. Mit einer Empathie, die berührt, aber nicht klammert. Ich meine bloss, die Geschichte hätte sich auch in 90 Minuten erzählen lassen. Diese Kirchengesänge gähnen sich durch die Minuten. Und der Film klotzt derart mit Redlichkeit, dass ich mich wie ein schlechter Mensch fühle.“
Henry löst sich aus meinem Schultergriff, und wir spazieren weiter. „Ist es der Fehler des Films, dass du dich wie ein schlechter Mensch fühlst?“, fragt er. „Weil du nicht von den Ungerechtigkeiten der Welt weisst, macht dich dieses Unwissen etwa zu einem besseren Menschen? Und die Kirchengesänge… Sie sind entscheidend. Sie bestimmen den Rhythmus des Films, entwickeln einen Sog und verstärken die Dramaturgie der Angst. Die Mönche singen gemeinsam, rücken näher zusammen, weben ein feines Tuch der Kraft, beleben eine Atmosphäre des Glaubens, die nicht aus wortreicher Überzeugung besteht.“
„Ist ja gut, Henry“, sage ich. „Ich habe verstanden. Des hommes et des dieux ist der ideale Weihnachtsfilm, nicht? Hat ja auch den Preis der ökumenischen Jury in Cannes gewonnen.“ Den ironischen Tonfall hätte ich mir sparen können. Henry ist eine humorfreie Zone. Wieder bleibt er stehen. Wieder wendet er sich mir zu. Ich halte schützend die Hände vor die Brust.
Er legt los: „Der Punkt ist doch: Dem Pluralismus fehlt die argumentative Kraft. Für was steht Pluralismus? Für eine Vielheit von unterschiedlichen Lebensweisen, für Toleranz, für Freiheit. Aber der Geste des Gewährens fehlt der Kampf. Mit grimmiger Leidenschaft lässt sich nicht für Toleranz plädieren. Mit gereckter Verzweiflung lässt sich nicht für religiöse Vielheit einstehen. ‚Leben und leben lassen’ kann man nicht skandieren. Zu abstrakt. Diesen Argumenten fehlt das konkrete Leiden. Was zur Gelassenheit mahnen soll, kann nicht gepoltert werden. Wir schützen den öffentlichen Raum für alle. Und damit auch für jene, die ihn zerstören wollen.“ Ich blicke in den Nachthimmel. Die ersten Schneeflocken tanzen. Ich frage: „Und was hat das mit dem Film zu tun?“ Henry: „Darum ist der Film wichtig. Weil er der Gleichmacherei derer, die sich nur selbst schützen wollen, wirkungsvolle Bilder entgegenstellt. Er zeigt Vorbilder. Keine Helden. Vorbilder, die sich schwer tun mit der Frage nach dem richtigen Leben. Vorbilder, die sich nicht aus der Verantwortung stehlen, bloss weil Gott ihnen ihr Gewissen reinigt. Vorbilder, die sich nicht wie Fundamentalisten hinter dem Deckmantel der Religion verstecken.“
Des hommes et des dieux, F 2010, Regie: Xavier Beauvois, Schauspieler: Lambert Wilson, Michael Lonsdale
Kinostart: 16. Dezember 2010