Die Zeit als Leinwand: “Der Omega-Punkt” von Don DeLillo

Die Zeit als Leinwand: “Der Omega-Punkt” von Don DeLillo

Ein Besucher des MoMA in New York steht vor dem Kunstwerk 24 Hour Psycho, eine Videoinstallation von Douglas Gordon. Es ist der fünfte Tag in Folge, an dem der junge Mann hergekommen ist. Hitchcocks Film läuft in extremer Verlangsamung, tonlos. Die Standbilder zucken alle paar Sekunden eine kleine Bewegung weiter. Die Zeit dehnt sich. Der Blick verändert sich.

Schnitt. Der Filmemacher Jim Finley besucht Elster, einen ehemaligen Regierungsberater, der den Irakkrieg hätte rhetorisch glattbügeln sollen. Finley möchte mit Elster einen Dokumentarfilm machen. Ganz ohne Schnitt, nur eine Einstellung, ein Mann, eine Wand, keine Fragen aus dem Off.

Elster, ein alter Mann, geniesst den jungen Zuhörer und die Wüste. Der Film interessiert ihn nicht. Er pinselt Weisheiten über die Zeit in die flimmernde Mittagshitze. Er zeichnet die Omega-Philosophie eines Teilhard de Chardin in die tiefe Nacht der Pleistozän-Wüste. Der Omega-Punkt ist der Endpunkt der Evolution. Elster kehrt den Omega-Punkt um. Statt in ein reines Bewusstsein zu münden, sehne sich der Mensch nach einer Rückkehr zu inorganischer Masse. “Wir wollen Steine auf dem Feld sein.”

Dann kommt Jessica zu Besuch. Sie ist Elsters Tochter, seltsam durchlässig und unverbindlich. Ihr Element ist die Luft. Elster himmelt sie an. Jim begehrt sie. Beiden verweigert sie die Antwort. Als die Männer nach dem Einkaufen nach Hause kommen, ist Jessica verschwunden.

Elster bricht auseinander. Jim macht sie auf die Suche nach ihr. Vergebens. Sie warten, geben auf, kehren in die Stadt zurück und nichts ist mehr, wie es einmal war.

Schnitt zurück nach NewYork ins MoMA. Wieder steht der junge Mann vor dem Kunstwerk und “wartet darauf, Pore um Pore aufgesogen zu werden, sich in der Figur des Norman Bates aufzulösen”. Eine Frau spricht ihn an. Jessica? Er geht ihr nach und lässt sich von ihr die Telefonnummer geben.

Die Zeit als Leinwand: “Der Omega-Punkt” von Don DeLillo

So endet dieses schmale Buch. Den hegemonialen Worten, der grossspurigen Gelassenheit folgt die persönliche Katastrophe. Die absolute Relativierung. Eine präzise, durchdringende Sprache erzählt diese geheimnisvolle Geschichte und öffnet einen flirrenden Resonanzraum, in dem manche Leserseele wohlig schaudernd mitzittern wird.

Der Omega-Punkt ist vieles mehr, aber auch ein Buch über Film. Das Dehnen der Zeit spannt die Leinwand für die allzumenschlichen Überschussbegehren, die auf alles projiziert werden, was nicht wort- und gestaltreich die Interpretation verweigert: die Pausen zwischen den Standbildern, die gleissende Wüste, die tiefe Nacht, die schwebende Tochter, die Erklärungen der Bush-Regierung, die Zeit. Wo nichts ist, wird Bedeutung hineingegossen, wuchern Fetische. Das ist Film. Und auch das: Verknüpfe die gezeigten Situationen so, dass eine Erzählung entsteht. Unser Bewusstsein kann nicht anders.

Um nicht missverstanden zu werden: Das ist keine Wischiwaschi-Geschichte und kein pathetisches Geschwafel. Don DeLillo schafft es mit einer klaren Sprache, wunderschöne Sätze zum Blühen zu bringen und Zeiträume vielschichtig atmen zu lassen, so dass die Welten durch die 110-seitige Geschichte wehen. Die amerikanische Welt. Die männliche Welt. Die filmische Welt. Die bedrohte Welt. Die eigene Welt.

Übrigens, noch mehr Film: Elster ist ein Name aus Vertigo von Alfred Hitchcock.

Die Zeit als Leinwand: “Der Omega-Punkt” von Don DeLillo

Der Omega-Punkt, Don DeLillo, Kiepenheuer&Witsch, 2010, 111 Seiten.


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