Screenology #33: A Serious Man

ASeriousMan(Illustration: Emma Isacson)

Der Saal schliesst für einen Moment sein grosses Auge und wird dunkel. Der Film beginnt und allmählich verebben die Gespräche. Vorne links, wo das grünweisse Rennmännchen knapp dem Feuer entkommt, blinzelt die Türe und das Sterk-Fräulein im roten Gilet lässt drei Männer hinein. Sie drängen sich an uns vorbei, prosten laut, und ich brumme zu Tristan: „Scheiss-Samstagabendpublikum.“ Aber der grunzt bloss „Ach, ich will auch“, steht auf und geht kurzerhand zwei Bier holen. Noch bevor er wieder sitzt, fragt er: „Habe ich etwas verpasst?“

Bei Larry Gopnik, einem jüdischen Physikprofessor in einer amerikanischen Kleinstadt, geht alles schief. Die Kinder nehmen ihn nicht ernst, sein Schwager nervt, die Frau will die Scheidung, ein Student erpresst ihn, anonyme Briefe verhindern die akademische Karriere. Wie das Leben halt so spielt. Aber warum ich?, fragt sich der grundanständige Gopnik und sucht, derweil sich Unglück an Unglück reiht, Rat bei den drei Rabbis seiner Kommune.

Der erste meint: „Schauen Sie sich diesen Parkplatz an, das ist eine Frage der Wahrnehmung. Öffnen Sie Ihre Augen.“ Der zweite erzählt ihm eine Geschichte von einem Zahnarzt, der bei einem Patienten an der Innenseite der Zähne die hebräische Botschaft „Hilf mir!“ entdeckt und verzweifelt nach der Ursache forscht. „Was soll diese Geschichte bedeuten?“, fragt Gopnik. „Ist das wichtig? Wir können nicht alles wissen!“, verwirft der Rabbi die Hände.

Unterdessen schlägt das Schicksal unvermindert auf Hiob ein. Zum dritten – dem ältesten! dem weisesten! – Rabbi wird er nicht einmal vorgelassen, sein bekiffter Sohn Danny hingegen schon, weil seine Bar Mitzwa diese Ehre für ihn bereithält. Der geheimnisvolle Rabbi gibt ihm das beim Thora-Unterricht konfiszierte Radio zurück und zitiert aus einem Song von Jefferson Airplane: „Wenn die Wahrheit zur Lüge wird, wenn die Lebensfreude in dir stirbt, was dann?“

Schon bald kommt der Abspann, die Samstagabendmeute steht auf, die drei Männer drücken sich in ihren H&M-Streifenpullover an uns vorbei, die Bierflaschen fallen klirrend unter die Sitze. „Sag was Kluges für deine Kolumne“, raunt Tristan. „Nun ja, offenbar gibt es keine Antworten auf die Leiden des Lebens“, sage ich. „Ho! Ho! Das ist aber weise!“, lacht Tristan.

Ich beachte ihn nicht: „Der letzte Rabbi hat Recht. Was bleibt uns denn? Wir können grad so gut Rock’n Roll hören. Wir erfinden tagtäglich Kausalketten so lange wie Gopniks mathematische Gleichungen an der riesigen Wandtafel, basteln verbissen an unseren Lebensläufen und kriegen im Vakuum des Warums trotzdem keinen Boden unter die Füsse. Der Kälte des Zufalls entkommen wir nicht.“ Tristan schaut mich an, als bereue er schon, dass er mich aufgefordert hat. Schnell will er das Thema wechseln: „Und was soll die amerikanische Flagge am Schluss?“

„In amerikanischen Blockbustern weht sie jeweils das triumphale Ende herbei. Hier wird sie vom Tornado zerrissen. Hollywood gaukelt uns vor, dass wir unseres Glückes Schmied sind. Wir müssen uns nur anstrengen. Die Coen-Brothers halten uns Larry Gopnik entgegen, der seine Bestrafung verstehen will. Erst dadurch wird er schuldig. Er sucht Verbindungen zwischen den Zufälligkeiten. Er weigert sich die Unkontrollierbarkeit des Lebens anzuerkennen. Das ist gleichzeitig kafkaesk und postmodern, weil…“ Tristans Lachen platzt in den leeren Saal. „Sieh dort. Auf dem Abspann“, gluckst er. „No Jews were harmed while making this film.“

Auge vollAuge vollAuge vollAuge vollAuge leer

(A Serious Man, USA 2009, Regie: Joel und Ethan Coen, Schauspieler: Michael Stuhlbarg, Richard Kind, Fred Melamed, Sari Lennick)


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