Samsara und Nirvana unterscheiden

Prinzipien der Dzogchen-Praxis von Khorde Rushen

von Nyoshul Khen Rinpoche

Samsara und Nirvana unterscheidenGrundsätzlich gibt es in unserem Geist die Buddha-Natur, die tatsächliche Dharmata, die leeres und erkennendes, selbst-entstehendes, uranfängliches Gewahrsein ist, in dem die drei Buddha-Körper (kaya) vollständig gegenwärtig sind. Sie war schon immer da, spontan vollkommen. Doch genauso  wie die Sonne von Wolken verdeckt ist, ist der erleuchtete Körper durch den gewöhnlichen Körper verdeckt, die erleuchtete Rede durch gewöhnliche Rede verdeckt, der erleuchtete Geist durch den gewöhnlichen Geist verdunkelt, und subtile Klar-Lichtheit wird durch Erlebnishaufen, Elemente und Sinneswahrnehmungen verdeckt.
Hier in der zyklischen Existenz bleiben wir innerhalb der Grenzen von Karma, das durch unseren unreinen Körper, Rede und Geist, sowie durch mentale Bedrängnisse und gewohnheitsmäßige Neigungen angesammelt wurde, und als Folge davon, dass wir unsere eigene essentielle Natur nicht erkennen, sind wir getäuscht.
Zu Beginn, als Vorbereitung auf den Pfad, müssen wir daher eine klare Unterscheidung oder Trennung zwischen dem gewöhnlichen Geist (tib., sems) und dem reinen, uranfänglichen Gewahrsein (tib., rig pa) vornehmen, wobei wir die Phänomene des Geistes als Domäne oder Geltungsbereich von Täuschung und Saṃsara, aus der Domäne oder Geltungsbereich von Nirvaṇa, d.h. reines, uranfängliches Gewahrsein und die Abwesenheit von Täuschung. Mit anderen Worten, wir müssen den gewöhnlichen Körper, die gewöhnliche Rede und den gewöhnlichen Geist und die damit verbundene Anhaftung, die Saṃsara umfasst, vom Körper, der Rede und dem Geist ohne Anhaftung oder die natürlich entstehende Weisheit des Gewahrseins, die Nirvaṇa umfassen, trennen.
Das Vorgehen hier ist, wie wenn man Wasser im Ohr hat und dann mehr Wasser hineingießt, um es zu entfernen oder in einem Feuer verbrannt wird und dann die Hitze des Feuers benutzt, um den Schmerz zu lindern. In ähnlicher Weise erreicht man dies, indem man diesem außergewöhnlichen Pfad der geschickten Mittel des geheimen Mantras folgt und Khorde Rushen (tib., ‚khor ‚das ru shan; das Unterscheiden von Samsara und Nirvana) praktiziert und so einen Zustand der Erschöpfung von Körper, Rede und Geist verwirklicht. In diesem Fahrwasser können jene mit der höchsten Fähigkeit, die die essentielle Natur des Geistes aufrechterhalten, die Natur des Geistes dort und danach erkennen. Selbst wenn man geringe oder durchschnittliche Fähigkeiten hat, wird es einem leichter fallen, das Gewahrsein der drei Buddha-Körper zu erkennen, auf das in der Hauptpraxis hingewiesen wird.
So können die beiden Arten des Unterscheidens und Trennens (Rushen) – äußerlich und innerlich – sowohl die Ursachen als auch die Wirkungen der zyklischen Existenz beenden. Daher ist diese vorbereitende Übung des Unterscheidens und Trennens (tib., ru shan) auf der gewöhnlichen Ebene gut für das Reinigen der Verschleierungen von Körper, Rede und Geist, sowie für die Befriedung von Hindernissen und führt uns letztendlich dazu, die höchste Vollendung zu erlangen und den erleuchteten Körper, Rede und Geist oder die drei Buddha-Körper zu erkennen, die Essenz, Natur und Mitgefühl sind.
Deshalb führt man dies als eine Vorbereitung aus, bevor man in die makellose Weisheit der Hauptpraxis eingeführt wird, so wie sich Reisende auf einer heimtückischen Reise einem Führer anvertrauen. Dieser Punkt wurde von den großen Meistern der Vergangenheit gemacht, insbesondere von Nyoshul Lungtog Rinpoche (tib., smyo shul lung rtogs bstan pa’i nyi ma).
Danach kann man Schritt für Schritt in die Hauptpraxis eingeführt werden. Durch die Arbeit mit dem groben Körper, der Rede und dem Geist in dieser Praxis des Unterscheidens und Trennens reinigen wir die subtilen Kanäle, die Wind-Energien und die Essenztropfen (tib., rtsa rlung thig le). In der Tat sind sie tatsächlich genau gleich. Der einzige Unterschied zwischen ihnen besteht in ihrer Subtilität.
Der grundlegende Punkt ist folgender: Indem man mit Körper, Rede und Geist auf eine kraftvolle, spontane Art und Weise handelt, genauso wie man mehr Wasser hineingießt, um Wasser aus dem Ohr zu entfernen, werden die eigene unreine Wahrnehmung und Aktivität gereinigt und man gelangt über die Anhaftung hinaus. Als Ergebnis werden die drei Tore des natürlichen Zustandes, des Körpers, der Rede und des Geistes der Erleuchtung oder der Essenz, der Natur und des Mitgefühls der natürlich entstehenden Weisheit des Gewahrseins erreicht. Es ist als ob man einen Führer auf einer heimtückischen Reise hätte, besonders für die Einführung in die Natur des Geistes in der Hauptpraxis von enormem Vorteil, weshalb es als Vorstufe dient. Hier könnte man sich fragen, ob gewöhnliche Handlungen wie Laufen, Springen, Gehen, Sitzen und Bewegen ähnliche Auswirkungen haben können, da sie ähnlich sind. Die Antwort ist, dass sie tatsächlich sehr unterschiedlich sind.
Der Grund [die Ursache] ist anders, da hier die Handlungen mit einer besonderen Motivation ausgeführt werden. Die geschickten Mittel und die Weisheit des geheimen Mantras werden verwendet, um die Weisheit des eigenen Bewusstseins zu entdecken. Der Pfad ist auch anders, da dieses Unterscheiden und Trennen von Körper, Rede und Geist mit der Übung von geschickten Mitteln Anhaftung, Abneigung und Nichtgewahrsein durchtrennt, mit dem Resultat, dass sie nur reduziert, aber niemals gestärkt werden können.
Es macht auch einen großen Unterschied im Ergebnis der Praxis, die die große Weisheit des Gewahrseins ist. Diejenigen mit der höchsten Fähigkeit werden dies direkt erkennen und jene mit durchschnittlichen und geringen Fähigkeiten werden feststellen, dass sich ihr gewöhnlicher Geist weniger verfestigt ist, so dass es für den Sinn der Einführung einfacher ist, den Nagel auf den Kopf zu treffen. Gewöhnliche Aktivität ist hingegen eine Ursache für die zyklische Existenz. Es verursacht nur Zuneigung, Abneigung und Täuschung. Es dient dazu, die natürlich entstehende Weisheit, die die Natur des Geistes ist, zu verschleiern. Und indem sie die unendliche Kette der dualistischen Wahrnehmung fortsetzt, pflanzt sie im Allgrundbewusstsein (tib., kun gzhi rnam shes) weiteres Karma, das einen dazu bringt, endlos in der zyklischen Existenz umher zu wandern. Es fördert nur die Verblendung und kann niemals eine Ursache der Befreiung sein.
Da ferner die Praxis des Unterscheidens und Trennens (tib., ru shan) alle unsere gewöhnlichen weltlichen Handlungen in den Pfad integriert, so wie sie sind, ohne sie im geringsten zu ändern oder anzupassen, ist es ein einzigartiges Merkmal des Dzogchen, das mit der wundersamen Sicht des Wurzeltantras, dem „Tantra des ungehinderten Klangs“ (tib.,dra thal ‚gyur; Dra Thalgyur) und anderen Texten übereinstimmt. In den Ursachen- und Ergebnisfahrzeugen [d.h. Sutrayana und Vajrayana] hingegen mag man vielleicht Geistestechniken vorfinden, die das Praktizieren von tugendhaften Taten, das Visualisieren von Meditationsgottheiten und das Rezitieren von Mantras oder die meditativen Versenkungen der Erzeugungs- und Vollendungsstufen beinhalten, aber nichts davon ist gleich diesem hier. Sucht in der Schrifttradition und ihr werdet es selbst erfahren. Wie der allwissende Longchenpa sagte: „Obwohl es nicht unvernünftig ist, mit Aufwand nach Ursache und Wirkung zu üben, ist es im höchsten Fahrzeug angebracht, gelassen und unerschütterlich zu verweilen.“ Und: „Atiyoga lehrt die Untrennbarkeit von Ursache und Wirkung. Nicht durchführbar in niedrigeren Ansätzen, ist es hier jedoch ein entscheidender Punkt.“
Dies ist äußerst wichtig, um alle wichtigen Punkte des Dzogchen-Pfades zu verstehen. Diese Praxis des Unterscheidens und Trennens beseitigt die gegenwärtigen Ergebnisse, die die tatsächlichen Phänomene der zyklischen Existenz sind, die durch vergangene Handlungen hervorgerufen sind. Sie beendet auch Anhaftung, Abneigung und Nichtgewahrsein, die die Samen oder Ursachen zukünftiger weltlicher Erfahrung sind. Indem beide ausgelöscht werden, bringt es einen direkt zur großen Weisheit des Gewahrseins, das Nirvaṇa ist.
Da dies eine wunderbare Methode ist, um die Natur der zyklischen Existenz und Nirvaṇa genau zu identifizieren und den gewöhnlichen Körper, Rede und Geist in der Natur der drei Vajras oder innerhalb der Weite von Wesen, Natur und Mitgefühl zu befreien, wird es Khorde Rushen [Unterscheiden und Trennen von Samsara und Nirvana] genannt, das die Geltungsbereiche von Saṃsara und Nirvaṇa trennt. Es gibt äußere und innere Praktiken des Unterscheidens und Trennens von Samsara und Nirvana. Ersteres basiert auf der Sicht des „Tantras des ungehinderten Klangs“ (tib., dra thal ‚gyur) und ganz allgemein auf den Dzogchen-Tantras, während letzteres auf der Sicht des „Tantras der Leuchtenden Weite“ (tib., klong gsal ‚bar ma; Longsal Barma Tantra) basiert. Obwohl im „Tantra der Selbstexistierenden Vollkommenheit“ (tib., rdzogs pa rang byung; Dzogpa Rangjung) eine Methode zur Reinigung der sechs Klassen unter Verwendung der sechs Silben gelehrt wird, ist es hauptsächlich eine Übung für die Toten. Dennoch glaube ich nicht, dass es einen wirklichen Widerspruch darin gibt, von den Lebenden praktiziert zu werden.

Deutsche Übersetzung vom Ngak’chang Rangdrol Dorje (Enrico Kosmus, 2018), verglichen mit der englischen Übersetzung von Adam Pearcey (2018) von Lotsawahouse.org. Möge es von Nutzen sein!


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