Sabine Rennefanz – Eisenkinder: Die stille Wut der Wendegeneration

Ostdeutscher zu sein ist ein Label, das an einem klebt, das man nicht los wird, selbst wenn man sich bemüht.

Es ist ja kein Geheimnis, dass ich schnell lese – und auch kei­nes, dass ich, wenn ich ein gutes Buch in der Hand habe, die Welt um mich herum ver­ges­sen kann. Aber dass ich ein Buch um 15:00 Uhr kaufe und um 18:15 Uhr aus­ge­le­sen fort­lege ist dann doch wohl eher die Ausnahme.

Ich weiß noch gar nicht, ob ich jetzt schon – es ist 18:16 Uhr – wirk­lich in der Lage bin, eine Rezension zu schrei­ben. Doch ich will es ver­su­chen.

Sabine Rennefanz - Eisenkinder (Cover)Das Buch “Eisenkinder” von Sabine Rennefanz habe ich durch ein Interview ken­nen­ge­lernt, dass vor eini­gen Tagen in der FAZ erschien. In mei­nem kur­zen Artikel dazu schrieb ich schon: “Das Buch ‘Eisenkinder. Die stille Wut der Wendegeneration’, das der Auslöser für das Interview war, werde ich wohl lesen müs­sen. Denn – obschon etwas älter als die Autorin – weiß ich genau, was sie meint. Lebte ich doch nach der ‘Wende’ eben­falls eine Weile wie im luft­lee­ren Raum.”

Ich bin gut zehn Jahre älter als Sabine Rennefanz. Das ist in die­ser Zeit schon fast eine Ewigkeit. Denn ich hatte das Glück, nicht ganz ori­en­tie­rungs­los zu sein, als sich die Gesellschaft um mich herum so grund­le­gend ver­än­derte, dass es mir heute noch wie ein Wunder vor­kommt, dass ich mit nur ein paar blauen Flecken davon­kam. Und meine Orientierungslosigkeit mit eini­gen – von heut her betrach­tet – selt­sa­men Texten und Artikeln in den Griff bekom­men konnte.

Nicht so die Generation der Autorin. Die, die damals genau in der Pubertät waren; in einer Lebensphase also, in der es nichts Wichtigeres gibt als Halt zu fin­den. In der man auf der Suche ist nach dem, was das eigene Leben aus­macht.

Meine – ich sage mal: Tochter – war damals gerade 5 Jahre alt. Diese Generation wie­derum ist kaum direkt berührt von dem Umbruch um sie herum. Sicher: auch diese Eltern haben sich mit der neuen Situation abfin­den; sich darin zurecht­fin­den müs­sen. Doch das waren ja – wie ich – ein klein wenig gefes­tig­tere Charaktere, die schon ein paar Jahre mehr Lebenserfahrung hat­ten.

Doch zurück zur Lebensgeschichte Sabine Rennefanz’. Auslöser des Buches war – wie sie selbst im Prolog schreibt – ein Gespräch in einer Kneipe unter Kollegen. Darüber berich­tet Rennefanz in einem Artikel in der Berliner Zeitung:

Wir kamen auf die Mordserie der Neonazis aus Jena zu spre­chen. Doch es ging nicht nur um Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe, die zehn Menschen getö­tet haben. Es ging sofort um viel mehr.

„Tja“, sagte ein Kollege, der beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk arbei­tet, „der Osten ist halt braun.“ Eine Kollegin von einer über­re­gio­na­len Zeitung stimmte ihm zu. Sie hatte auch gleich eine Erklärung. Das liege an den Familien in der DDR, an dem staats­ver­ord­ne­ten Antifaschismus, der man­geln­den Kommunikation.

Dieser Artikel dürfte als die gedank­li­che Geburtsstunde des Buches gel­ten. Denn aus den Lebenswegen der drei NSU-Täter ent­wi­ckelt sie die Lebensgeschichte einer gan­zen Generation. Einer Generation, die zu Opfern einer Entwicklung wer­den, die sie selbst nicht in der Hand haben; der sie aber aus­ge­setzt sind wie einer Naturkastrophe, die über sie her­ein­bricht.

Einige der Sätze aus dem Artikel fin­den sich wort­wört­lich im Buch wie­der – was das Buch nicht schlech­ter macht. Im Gegenteil. Denn eine solch klare, gerade Sprache liest man sel­ten. Dinge wer­den beim Namen genannt – unge­schönt und ohne fal­sche Scham.

Im zitier­ten Artikel setzt sich Sabine Rennefanz damit aus­ein­an­der, wes­halb aus Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe Mörder wur­den – und was sie mit ähn­li­cher Biografie davor bewahrte. Sie hin­ge­gen rannte ande­ren ein­fach schei­nen­den Ideen und Weisheiten hin­ter­her: sie wurde für einige Jahre radi­kale Anhängerin einer evan­ge­li­ka­len Kirche. Und viel­leicht kann nur jemand, der selbst im Osten des Landes auf­ge­wach­sen und sozia­li­siert wurde, begrei­fen, was hin­ter die­sen Worten steht:

Ich ersetzte eine Religion durch die andere, mit dem Unterschied, dass ich dies­mal mit vol­lem Herzen dabei war. Mein neuer Lenin hieß Jesus.

Wer – wie wir – in einer Gesellschaft auf­ge­wach­sen ist, in der das Unwahrscheinliche als Wahrheit ver­kauft wer­den soll; in der es ein sicht­ba­res Leben gab und eines hin­ter den eige­nen (oder frem­den) vier Wänden; in dem die Zeitungen Sieg auf Sieg ver­kün­de­ten und die Strassen grau und viele Läden leer (vor allem auf dem Land; Berlin war da eine Ausnahme) waren… der begreift einen Satz wie die­sen in vol­lem Umfange:

Wenn K. eine cle­vere Neonazi-Frau gewe­sen wäre, oder eine radi­kale Muslimin, hätte sie mich viel­leicht ganz genauso auf ihre Seite gezo­gen. Der Inhalt schien fast aus­tausch­bar. Ich kam aus einer Welt, in der zwi­schen Gut und Böse unter­schie­den wurde. Man konnte nicht bei­des sein, man musste sich ent­schei­den. …
Mit die­sen Mustern war ich auf­ge­wach­sen, die legt man nicht so schnell ab…
Erst im Nachhinein ergab alles Sinn. Ich fiel in eine ange­lernte Rolle zurück. Auch der Kommunismus funk­tio­nierte wie eine Religion, mit Merksätzen, Heiligenfiguren und einem Heilsversprechen. Das Leben war wie im Christentum auf die Zukunft aus­ge­rich­tet, auf ein Paradies, in dem alle Klassengegensätze über­wun­den sind.

Als die “Wende” kam, waren mir diese Schlussfolgerungen bereits Gewissheit. Ich hatte schon zuvor begrif­fen, dass wir in die­ser klein­bür­ger­li­chen, ver­mief­ten DDR uns immer wie­der selbst belü­gen. Und dabei dar­auf stolz waren.

Ich war in der Lehre – also etwa so alt wie Sabine Rennefanz in der “Wendezeit” – und stellte die Existenz der per­ma­nent vor­ge­be­te­ten “ent­wi­ckel­ten sozia­lis­ti­schen Persönlichkeit” – also die der “wah­ren Gläubigen” – in Frage. Denn wir leben mit Menschen in einer Gesellschaft, die mit genau der glei­chen Über­zeu­gung Nazis waren wie wir Kommunisten sein soll­ten. Ich kannte das Wort “Opportunist” noch nicht ein­mal; aber ich wußte instink­tiv, dass wir fast alle eben sol­che waren.
Denn es war schon immer ein­fa­cher, mit­zu­tun, als Widerstand zu leben.

Und letzt­lich – trotz aller jugend­li­cher Rebellion – wir waren Teil des Systems. Das nur des­halb so lange funk­tio­nie­ren konnte, wie wir Teil davon waren.

Es ist sehr rich­tig, wenn Rennefatz davon spricht, dass die “Wende” keine fried­li­che Revolution war, son­dern

Es war ein Zerfall. Ein Land zer­fiel in seine Einzelteile. Bevor seine Bewohner sich des­sen bewusst wer­den konn­ten, ich meine: wirk­lich bewusst wer­den konn­ten, waren sie schon zu Bürgern eines ande­ren Landes gewor­den. Etwas war zu Ende gegan­gen, aber nichts Neues hatte begon­nen.

Und in die­sen luft­lee­ren Raum (auch diese Formulierung kommt im Buch vor und drückt genau mein Empfinden in den Jahren 1989 bis 1991 aus) wird eine Generation gewor­fen, deren Eltern keine Stütze, keine Hilfe mehr sein kön­nen. Denn – sein wir doch ehr­lich – selbst wenn man im Alter von 16 oder 17 auf alles Mögliche hört, nur nicht auf seine Eltern – letzt­end­lich prä­gen sie uns doch.

Diese Elterngeneration – die ein paar Jahre älter ist als ich – war zu jung, um sich auf’s Altenteil zurück­zu­zie­hen. Und zu alt, um noch zu ler­nen, die Ellenbogen zu benut­zen. Eine Generation, deren Träume noch her­ber zer­platz­ten als die unse­rer. Sie schreibt über ihren Vater:

Als die Mauer fiel, hatte er gehofft, dass er nun mehr rei­sen könnte. Aber wei­ter als bis nach Amsterdam, 1991, ist er nicht gekom­men.

Diese innere Emigration, in die sich auch meine eige­nen Eltern zurück­ge­zo­gen haben, kann man nicht bes­ser aus­drü­cken als in dem Satz

Früher besuch­ten sich die Menschen gegen­sei­tig. Jetzt saßen sie vor dem Fernseher.


Es gibt wenige Bücher, die ich so ver­schlun­gen habe. Und ebenso wenige, in denen ich mir so viel ange­stri­chen habe.

All das, was die Autorin über ihre Zeit in der evan­ge­li­ka­len Kirchgemeinde schrieb, muss hier zu kurz kom­men. Das aber muss ich sagen: es ist mit einer fast gna­den­lo­sen Distanz geschrie­ben. Und es gibt mehr als diese nach­fol­gend zitierte Stelle, die Auskunft über den Irrsinn gibt, der mit den Glaubesgrundsätzen ver­bun­den ist. In einem “Gebetskreis” fragt eine junge Frau nach, ob es in Ordnung sei, wenn sie ihrem Freund einen Blowjob gönnt.

Ruth, die Älteste, schlug in der Bibel nach und fand eine obskure Stelle in dem Lied des Salomon, in dem von einer Braut und einem ver­schlos­se­nen Garten die Rede ist. Der Garten musste ver­schlos­sen blei­ben, das war etwas blu­mig for­mu­liert, schien aber die Frage zu beant­wor­ten. Gott hatte also nichts gegen Oralsex.

Als Missionarin ver­schlägt es Sabine Rennefanz in die fast men­schen­lee­ren Weiten Kareliens. Dort kom­men ihr (als Leser mag man den­ken: end­lich) Zweifel an dem, was sie tut. Es gibt kaum genug Brot – und sie und ihre Mitmissionarin kom­men mit Bibeln in die­ses zer­ris­sene Land.

Die Russen woll­ten kei­nen Heiland. Sie hat­ten ihren Wodka…
Ich schämte mich dafür, hung­rige Kinder indok­tri­niert zu haben… Ich fragte spä­ter, warum wir keine Lebensmittelspenden mit­ge­bracht hat­ten…


Ich inter­pre­tiere viel mehr in das Buch hin­ein, als es ver­mut­lich sagen will. Sabine Rennefanz beschreibt die Situation derer, die 1989/90 gerade began­nen, das Leben zu ent­de­cken. Ich sehe auch die etwas Älte­ren und ein wenig Jüngeren. Über die noch kein Buch geschrie­ben wurde.

Oft wird Uwe Tellkamps “Der Turm” nach­ge­sagt, das Buch über das Ende des Ländchens zu sein. Ich war nie die­ser Meinung. Da die DDR eben kein Staat der Intellektuellen war. Sondern der der klei­nen Leute – der Kleinbürger, die sich irgend­wie ein­rich­ten.

Sabine Rennefanz’ Buch füllt hier eine große Lücke aus. Eine Lücke, die ver­mut­lich nur Jemand aus­fül­len kann, der (die) mit einem gewis­sen zeit­li­chen Abstand über eine Zeit schrei­ben kann, die ihn (sie) prägte und der (die) die­ses Loch in der Biographie emp­fin­den konnte.

Und es gibt noch einen Satz – ziem­lich am Anfang des Buches – der sich mir ein­ge­prägt hat:

Die DDR war ein klei­nes Land ohne große Ressourcen, das unbe­dingt in der Welt aner­kannt wer­den wollte. Als wich­tigs­ter Rohstoff gal­ten die Menschen, es war wich­tig, Talente früh zu ent­de­cken. Auf die Herkunft kam es nicht an. Wer sich in einem Wettbewerb her­vor­tat, wurde wei­ter geför­dert, egal, ob man das Kind eines Lehrers oder eines Schlossers war.

Diesem Umstand habe ich zu ver­dan­ken, dass ich heute schrei­ben kann und davon leben – und nicht mehr in Schlosserwerkstätten an Drehbänken ste­hen muss. Beziehungsweise ver­mut­lich arbeits­los wäre.

Dieses Ausbrechen war mög­lich. Einfacher, als es heute zu sein scheint.

Meine Zukunft im Dorf schien abseh­bar: Ich könnte Melkerin im Kuhstall, Verkäuferin oder Sekretärin wer­den, einen Traktorfahrer namens Ronny oder Maik hei­ra­ten und mit 19 ein Kind bekom­men, das ich Sandy nannte.

Es war mög­lich, die­sem vor­ge­se­he­nen Leben zu ent­kom­men. Wenn man irgend­ein klei­nes Talent hatte. Oder sich bemühte. Die Chancen zum “Aufstieg” waren klei­ner – wie das ganze Land klei­ner war. Aber es gab sie. Vielleicht macht auch das uns so unsi­cher in die­ser jet­zi­gen Gesellschaft?

Nic

PS: Ich kann bei mei­nen Zitaten lei­der keine Seitenabgaben machen da ich das Buch als eBook las.

PSS: Das Schlusskapitel des Buches ist in der ZEIT in leicht gekürz­ter Fassung erschie­nen.

PSSS: Und in der Mediathek der ARD fin­det sich ein Gespräch mit der Autorin – ver­mut­lich von der Buchmesse. Hier erklärt Sabine Rennefanz auch, woher der Titel des Buches “Eisenkinder” rührt. Ich dachte dabei immer an Gundermann. Aber der Film über ihn hieß “Ende der Eisenzeit”.

Sabine Rennefanz – Eisenkinder: Die stille Wut der Wendegeneration, Luchterhand 2013, ISBN: 978-3630874050, 16,99 Euro (eBook 13,99 Euro)

 


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