Ruhe finden

Hier nun der Versuch, das Thema „Psyche beim Bogenschießen“ anzugehen.

Wer sich meine Ergebnishistorie 2010 anschaut, wird sehen, dass ich meine Bestleistungen zur DM Halle im März, zur VM und KM im Mai sowie zur LM Feld im Juni hatte. Im Juni liegen dazwischen und danach insgesamt aber einige Ausbrüche nach unten, von denen ich nun langsam versuche, mich zu erholen. Ein Einbruch (das Feldbogenturnier in Celle) beruhte auf einer unglücklichen Pfeilauswahl. Die weiteren Probleme erkläre ich mir mit zwei Überlegungen:

1. Nach meinem Start in die Bogenwelt habe ich ab August 2008 bis heute zwei volle Jahre fast ohne Pause geschossen. Jede Woche ein bis drei Trainings, dazu noch die Turniere und Meisterschaften. Meinem Körper habe ich also keine Ruhepause gegönnt und mein sportlicher Ehrgeiz hat bewirkt, dass ich dachte, es könne nur aufwärts gehen. Ich wollte mir wohl selbst beweisen, dass ich es mit Mitte/Ende 40 auch noch sportlich zu etwas bringen kann. – Hier bin ich nun schlauer und sehe, dass meine Physiologie im Frühjahr auf ihrem Höhepunkt war; in der Rückschau also zu einem falschen Zeitpunkt. Nun hoffe ich, dass mir eine Trainingspause im September und Oktober gut tun wird. (In dieser Zeit liegen ein paar längst gebuchte Turniere, aber ich verzichte zwischendrin eben auf das Training und nehme mir vor, die Turniere mehr als Spaß zu betrachten denn als sportliche Herausforderung).

2. Mit den ersten Erfolgen stieg die selbst gesetzte Erwartung auf immer bessere Leistungen und Platzierungen. Heute glaube ich zu wissen, dass auch dieser selbst gemachte Druck einen wesentlichen Beitrag zu meinen Unsicherheiten in diesem Sommer geleistet hat. – Um diese Überlegung zu verdeutlichen, gebe ich im Folgenden ein paar Leitgedanken aus dem neuesten Büchlein von G. Gabriel wieder.

    „es schießt – mit Gerhard Gabriel die inneren Hindernisse überwinden“, März 2010

    In seinem neuen kleinen Büchlein analysiert Gerhard Gabriel auf informativen 52 Seiten die „aktiven unbewussten mentalen Vorgänge“ beim Bogenschießen und schildert, wie das Wissen darüber „zum Erreichen sportlicher Höchstleistungen“ (S. 7) eingesetzt werden kann. Zentrale Argumentationsfigur ist die Theorie der „beiden Ich’s“, die G. Gabriel in einem Buch über die Psyche beim Tennis gefunden hat und die er nun auf das Bogenschießen überträgt:

    • ‘Ich 1′ ist dabei der „Befehlsgeber“, also das bewusste Ich, das den Schussvorgang steuert und beobachtet, das die Ziele vorgibt und die Ergebnisse bewertet. Dieses Ich ist bestrebt, den eigenen Schießstil stets zu verbessern, das immer wieder kritisiert und verbessern will.
    • ‘Ich 2′ dagegen ist das unbewusste Ich, das Ich, das auf eine gegebene und antrainierte Physiologie darstellt, der verinnerlichte Schussablauf, das durch tausende von Schüssen eingeprägte Zusammenspiel der Nerven und Muskeln, das Ich also, das zur Not und am besten auch ohne das bewusste ‘Ich 1′ schießt.

    Somit sind beim Bogenschützen ständig zwei Instanzen aktiv, ihr Zusammenspiel kann, wenn man es anerkennt, positiv genutzt werden, es kann aber auch negativ wirken, ja pathologisch werden, insbesondere dann, wenn ‘Ich 1′ die Eigenarten von ‘Ich 2′ nicht anerkennt. Das Grundproblem ist: ‘Ich 1′ (das Bewusstsein) beurteilt ständig ‘Ich 2′ (den Eigensinn des Körpers). – Ein zentrales Zitat:

    „Selbstbeurteilungen führen zu Selbstzweifeln, diese wiederum erzeugen Verunsicherung, Angstzustände und Verkrampfungen, die dann die für präzise und zügige Bewegungen erforderliche Flüssigkeit zerstören. Entspanntheit erzeugt glatte Bewegungen und ‘glatte Schüsse’ und kann sich entwickeln, wenn man seine Schüsse akzeptiert, wie sie sind, auch mit Fehlern.“ (S. 16) … „Der ständige Denkvorgang von ‘Ich 1′ dem bewussten Geist, dem Ego, verursacht Störungen der natürlichen Ausführungsprozesse von ‘Ich 2′. Harmonie der beiden Ichs herrscht aber nur, wenn der bewusste Geist ruhig ist.“ (S. 17) – Das Problem ist: „Wie kann ich auf dem Turnierplatz vermeiden, dass ich denke?“ – Die einfache wie schwierige Antwort ist: „Hör einfach auf!“ (S. 19)

    Der Rest des Büchleins ist (unter Heranziehung vielfältiger Quellen und eigener Erfahrungen Gabriels) eine Anleitung darüber, wie ‘Ich 1′ zu beruhigen ist und wie trotzdem (oder besser: wie gerade deswegen) Höchstleistungen entstehen können, indem man lernt, das ‘Ich 2′ ungestört ausführen zu lassen, was es kann. Meiner Ansicht nach gibt es dabei zwei wichtige Lehren:

    • Unterscheide Training und Wettkampf. Im Training darf ‘Ich 1′ Fehlerkorrekturen einfließen lassen, aber ‘Ich 1′ muss auch das Selbstbewusstsein und das Selbstvertrauen aufbauen, mit dem ‘Ich 2′ im Wettkampf schießt. Im Training also ist eine gewisse Portion Selbstkritik erlaubt, im Wettkampf muss man lernen, ‘Ich 2′ fließen zu lassen. Das Training dient dazu, den Schussablauf bis ins kleinste Detail zu verinnerlichen. Dabei muss der Schütze anstreben, dem Körper tausendfach die Gelegenheit zu geben, das Richtige zu fühlen, ohne ständige Beurteilung. – Gabriel: „Bei jedem Schuss, den wir machen, ob richtig oder falsch, nimmt der Computer ‘Ich 2′ wertvolle Informationen auf und speichert sie für spätere Anwendung. Mit jedem weiteren Üben verfeinert und erweitert ‘Ich 2′ die Information in seinem Speicher. Es lernt ständig dazu. Es erinnert sich an jede Aktion und an das Ergebnis jeder Aktion.“ (S. 31) – Im Wettkampf jedoch muss man lernen, ‘Ich 2′ („es“) schießen zu lassen.
    • Unterscheide Vorgang und Ergebnis eines Schusses. Im Training liegt der Fokus auf dem Schießvorgang. Es ist die Aufgabe der Trainer, Korrekturen einzuspeisen und anzuregen. Der Schütze soll sich, insbesondere beim Wettkampf, aber eben nicht auf einzelne Elemente konzentrieren, sondern auf das gewünschte Ergebnis: „Das Programmieren auf das Ergebnis ist im Wettkampf die wirksamste Methode des Informationstransfers an ‘Ich 2′. Auf dem Turnierplatz ist es zu spät, um am Schussablauf zu arbeiten, aber es ist möglich, sich vorzustellen, wohin die Pfeile gehen sollen und den Körper das tun zu lassen, was dazu notwendig ist. Hier ist es wichtig, dass ‘Ich 1′ Vertrauen zu ‘Ich 2′ hat und sowohl auf Anweisungen als auch auf Kontrolle während des Bewegungsablaufs verzichtet.“ (S. 34)

    Im Weiteren wendet Gabriel die Theorie der zwei Ichs auf das Bogenschießen an. Meine Erkenntnisse hieraus fasse ich in Lehrsätzen zusammen:

    • Konzentriere dich im Wettkampf nicht auf das gewünschte Ziel wie Gesamtergebnis, Rang oder ähnliches. Sondern beobachte im Zweifel deine Atmung: „Wenn wir also auf dem Turnierplatz in den Pausen, beim Pfeile holen oder unmittelbar vor dem Schuss unser Ein- und Ausatmen aufmerksam beobachten, konzentrieren wir uns automatisch, verhindern, dass unser Geist, wie es seinem Wesen entspricht, Ausflüge macht. Wir werden ruhig und bleiben ruhig.“ (S. 41)
    • Konzentriere dich beim Training und im Wettkampf nicht auf „Spannungen“ wie Körper-, Rücken- oder Schulterspannung, sondern achte auf fließende Bewegungen: „Die Sprache, die der Körper versteht, heißt ‚Bewegung“, nicht ‘Spannung’“. (S. 43) Eine zentrale Rolle spielt im Schussablauf beim Zug durch den Klicker die „Rotationsbewegung des Zugellenbogens um das Schultergelenk ‘nach hinten unten’“. Hierzu ist der geschlossene Stand am besten geeignet. (S. 43f)
    • Bewerte im Wettkampf immer die Trefferlage einer ganzen Passe, niemals die eines einzelnen Pfeils. Erst dann stelle das Visier nach der mittleren Trefferlage nach. (S. 47) – Konkret heißt dies, dass ich ruhig auf die ganze Spektiv-Guckerei verzichten kann. Ein Fernglas reicht, um im Notfall bei rasch wechselnden Bedingungen Korrekturen vornehmen zu können.
    • Vermeide es, den Wettkampf im Training nachzubilden, indem du Treffer zählst; schieße im Training daher keine 3er oder 6er Passen, sondern immer vier, fünf oder sieben Pfeile. (S. 48)
    • Übe die Konzentration und damit das Atmen im Training: „Im Training bewusster atmen als schießen.“ (S. 49)

    Wer zum Schluss noch im Zweifel ist, dem sagt Gabriel: „Sollten Sie jetzt fragen, wer schießt, wenn ‘Es schießt’, so lautet die Antwort: Ich 2 schießt.“ (S. 51)

    Gabriels Büchlein sei jedem ambitionierten Schützen ans Herz gelegt. Denn es macht klar, dass der Erfolg im Bogenschießen nicht durch den Willen in einer einfachen Ursache-Wirkung-Kette erzielt werden kann, sondern nur durch Training, Training, Training und … innerer Ruhe!

    Diese Quintessenz unterstützen übrigens auch KiSik Lee und Tyler Benner in ihrem neuen Buch „Total Archery – Der Bogenschütze von innen“ (2009, dt. 2010; Rezension) mit ihrem Schlusswort:

    „Der Bogenschütze, der einen Pfeil aus Passion für die Schönheit des Sports schießt, ist mit sich selbst im Reinen … Die Illusion, alles im Griff zu haben, kann so groß werden, dass sie den Perfektionisten ganz kaputt macht, wenn ihm klar wird, dass es nicht läuft und er sich hoffnungslos außer Kontrolle befindet. In solchen Momenten ist die Aktion der Schlüssel zum Erfolg. Der Geist tendiert mehr zu Unschlüssigkeit und damit zu verzögerter Aktion – eine Behinderung von Vorwärtsdenken und –handeln. Der Schuss, den man unendlich trainiert hat, ist einer mit glatter und flüssiger Bewegung. Wenn der Athlet aber vor der Scheibe steht, gibt es keine Zeit zur Besinnung. Trotz solcher Gefühle wie Furcht, Formtief und Angst vor Versagen und Erfolg gleichermaßen, bleibt das Einzige, was der Bogenschütze tun kann: Den Pfeil schießen. Und indem er es tut, muss er so schießen, wie er es tausend Mal geübt hat: Nicht daran denken, stark und zuversichtlich – eine wahre Angelegenheit des Herzens.“ (S. 243)

    Gerhard Gabriel würde sagen: „LASS ES SCHIEßEN!“ – Mir gibt dieser Gedanke jetzt eine Ruhe und Gelassenheit, die ich länger nicht hatte.


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