Prager Frühling 1968 – Welt Frühling 2011

Heute ist 21.8.2011, ein Tag an dem ich 1968 Schüsse in Prag gehört habe.

Prag-1968

Prag-1968

Wir wollten nichts anderes, als das der Frost des totalitären Sozialismus aufhört, dass nicht Ideologie sondern Lebensphilosophie die Gesellschaft bewegt, wir wollten freie Wahlen im System von mehreren Parteien, Demokratie, einen freie Marktwirtschaft, Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Am 5.1.1968 wird Alexander Dubcek Chef der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KPC). Er leitet Reformversprechen des “Sozialismus mit menschlichen Antlitz” ein, etwa Presse-, Meinungs- und Reisefreiheit. Demokratischer Sozialismus haben wir es damals auch genannt. Viele Tschechoslowaken folgen Dubceks Kurs. Die UdSSR fürchtet hingegen “konterrevolutionäre”. Die Parteichefs des Ostblocks zitieren die KPC-Führung am 23.3.1968 nach Dresden. Russlands Staatschef Breschnew fordert von Dubcek, die “Konterrevolution” abzuwenden. Doch Dubcek hält an seinem Kurs fest. Am 17. August 1968 fällt in Moskau die Entscheidung zur Intervention. Der Einmarsch soll so früh wie möglich stattfinden. Bis zuletzt hofften alle in der Tschechoslowakei, dass uns die Staaten des Warschauer Paktes in Ruhe unseren Prager-Frühling vollenden lassen. Wir dachten und haben gehofft, dass nach dem Unglück mit der Berliner Mauer, nach der Niederschlagung des Ungarischen Widerstandes und der polnischen Liberalisierungsversuche die UdSSR nicht mehr militärisch eingreifen wird. Die Angst der UdSSR vor einem demokratischen Wandel war aber ungebrochen stark.

In der Nacht zum 21. August rücken Truppen des Warschauer Paktes in der Tschechoslowakei ein. Wichtige Regierungseinrichtungen und Redaktionsräume werden besetzt, Untergrundsender ständig gesucht und immer wieder zum Schweigen gebracht. Auch damals hatte ich Urlaub wie heute und wunderte mich über den ungewöhnlichen Flugzeuglärm auf der Kuhweide. Die Kühe sind in Panik vor den niedrig fliegenden Flugzeuggeschwadern herumgerannt, bis sie den Kuhweidezaun durchbrochen haben und frei in dem unten liegendem Dorf verzweifelt herumliefen. Keine konnte sich um die Kühe kümmern, alle Blicke zum Himmel gerichtet wunderte sich jeder darüber, dass nun doch diese militärische Plage des Marxismus-Leninismus über uns hereingebrochen ist.

Das Zentralkomitee der KPC verurteilt den Einmarsch, untersagt aber militärischen Widerstand. Auch der Oberbefehlshaber der Armee, General Svoboda ruft über Rundfunk und über verbliebene Untergrundsender der Opposition die tschechische Armee dazu auf, keine Kampfhandlungen zu unternehmen – die Regierung, die Armee und die Opposition setzten auf friedlichen demokratischen Wandel, auf friedliche Revolution. Alle Straßen in Prag werden von den Bewohnern in Dubcek-Straße umbenannt, eine glänzende Idee des gewaltlosen Widerstandes, wenn der sich gegen Repressalien wehren will. Vor allem bei fremden Besatzungstruppen, die sich nur nach Stadtplänen orientieren können.

Es hilft nichts. Der Prager Frühling wird gewaltsam niedergeschlagen. 500 Menschen verlieren ihr Leben, zahlreiche werden verletzt.

Dubcek und führende Parteimitglieder werden verhaftet und nach Moskau gebracht. Dort werden sie gezwungen, das “Moskauer Protokoll” zu unterschreiben. Erst danach dürfen sie am 12.9.1968 nach Prag zurückkehren.

Heute nach 43 Jahren kann im Jahr 2011 ein neuer Frühling beobachtet werden. Was sich damals 1968 neben Prag auch in anderen europäischen Hauptstädten (Paris, Berlin) als Protest gegen erstarrte Strukturen der Gesellschaft und der Politik der Nachkriegszeit manifestierte, wird heute von der Jugendgeneration weltweit weiter gedacht und für grundsätzlichen demokratischen Wandel oder Demokratisierung demonstriert.

Die soziale Marktwirtschaft hat sich nicht weltweit etabliert, viele Diktaturen sind geblieben oder neu entstanden, die Mauer ist weg, der Ostblock hat ist nach der Gorbatschow Perestroika (Umbau, Umstrukturierung) in selbständige Staaten mit kapitalistischen Marktprinzipien aufgeteilt und kämpft um die Weiterentwicklung der Demokratisierung und gegen Korruption. Sowohl in dem ehemaligen Ostblockbereich wie auch in den westlichen Industrienationen wird eine Abhängigkeit der Bevölkerung sichtbar. In den ehemaligen Ostblockländer müssen sich die Menschen an die Möglichkeiten der Selbstverantwortung in der Demokratie gewöhnen, die Totalversorgung durch den sozialistischen Staat, wenn auch insuffizient, dann doch allgegenwärtig gewesen ist weg und die Versprechungen der westlichen Demokratien, für den Bürger zu sorgen erweisen sich als Trugschluss – sie lernen den Ausdruck „Wahllügen“ zu kennen und zu verstehen – fragen sich, wie viel Demokratie ist von der Korruption und dem gierigen Finanzkapitalismus aufgefressen.

Die Kinder der anderen Welt auf der westlichen Seite des ehemaligen Eisernen Vorhangs stellen spätestens in der Finanzkrise seit 2007, dass sie von ihren Regierungen nur ausgenutzt werden und dass die Regierungen nicht dafür sorgen, dass die Jugend ihre Zukunft nachhaltig mitgestalten kann. Die Auswirkungen des Finanzkapitalismus werden überall bestimmend, die Lösungen der Finanzkrise orientieren sich nach dem Erhalt des Finanzmarktes. Sogar Steuergelder werden für die Rettung von angeschlagenen Banken benutzt oder als Risikoabsicherung in Schuld gestellt.

Die Jugend versteht es nicht, warum Verluste der Banken sozialisiert und die Gewinne privatisiert werden, wenn es überall an Finanzmitteln für Bildung, Schule, Gesundheitswesen und psychosoziale Gesundheit, bezahlbaren und akzeptablen Wohnraum und Lebensmittelpreise fehlt. Sie machen das Problem in der mangelnden Politik der gewählten Regierungen aus und erheben sich zu gewaltlosen Widerstandsaktionen, die nicht überall gewaltlos vom Staat begleitet werden.

So erinnern am 21.8.2011 die Ereignisse in der Welt an den Prager Frühling 1968 – ein Welt Frühling taut den Frost der Alternativlosigkeit auf. Darüber müssen wir reden – darüber muss geredet werden. Die Appelle von manchen Politikern, bloß nicht so viel über die Krisen reden und schon gar nicht deren Ursachen nachgehen bringen die Gefahr mit sich, dass die gleichen Menschen, die die Krisen verursacht haben dafür sorgen werden, dass sich nichts ändert. Darüber müssen wir reden – darüber muss geredet werden.

Beim Tanken auf der Rückreise aus dem diesjährigen Urlaub hatten sie noch die Ausgabe der „Die Zeit“ von dieser Woche im Regal. Zu meinem Erstaunen auch mit den Themen, die mir während der Fahrt durch den Kopf gegangen sind.

DIE ZEIT: Die wirtschaftliche Situation der Jungen in Ihren Ländern ähnelt sich – ähneln sich auch die Bewegungen?

Shaffir: Unser Protest in Israel ist nicht nur einer der Jugend. Alle nehmen daran teil, alle Altersklassen, Berufssparten oder Religionen, Mittelschicht und Unterschicht. Alle empfinden dasselbe: dass man unsere Zukunft riskiert.

Mikhaylova: In Spanien sind auch nicht nur die Jungen aktiv.

Olga Mikhaylova: In Spanien haben wir am 15. Mai eine Demonstration für »echte Demokratie« organisiert. … Wir wollen eine echte Demokratie, in der die Menschen, nicht die Märkte das Sagen haben. Wir sind empört, weil wir nicht schuld sind an der Krise, aber für sie bezahlen müssen. „ (aus: Die Zeit, 19.8.2011: Aufstand der Jungen “Wir sind jetzt alle Politiker”)

Shaffir: Natürlich sind wir verbunden. Auch unsere Ökonomien sind ja miteinander verbunden.

Mikhaylova: Die Umstände in den Ländern sind vielleicht unterschiedlich, aber das Problem ist dasselbe: Die Finanzmärkte regieren uns.“(aus: Die Zeit, 19.8.2011: Aufstand der Jungen “Wir sind jetzt alle Politiker”)

Mikhaylova: Ebenso in Spanien. Aber seit es die Bewegung gibt, hat sich unser Glaube an das Menschliche in der Gesellschaft erneuert. Wir wollen für eine bessere Zukunft kämpfen.

Shaffir: Bürger eines Staates zu sein bedeutet, dass es einen Vertrag zwischen Staat und Bürger gibt: Wir fügen uns den Gesetzen, wir zahlen Steuern – und können im Gegenzug erwarten, dass sich der Staat um uns kümmert.

Sheshtawy: Wer die Gesellschaft führen soll? Ich glaube, diejenigen, die heute revoltieren, werden die Politiker von morgen sein.“ (aus: Die Zeit, 19.8.2011: Aufstand der Jungen “Wir sind jetzt alle Politiker”)

Shaffir: Wir wollen die Art ändern, wie das System arbeitet, nicht das System an sich. Wir sind nicht gegen freie Märkte, aber wir sind gegen habgierigen Kapitalismus. Die Balance ist wichtig. Und die Regierung sollte die Menschen in schlechten Zeiten unterstützen.

DIE ZEIT: Wollen Sie später selbst in die Politik?

Shaffir: Das sind wir doch schon. Wir sind alle Politiker, das ist alles politisch. Aber natürlich nicht so wie die Berufspolitiker, sondern Politiker als Teil einer Bewegung – nicht als Mitglied einer Partei.

DIE ZEIT: Wenn es gerade nicht allein um die Jugend geht – was ist dann die Rolle der Jugend in den Protesten?

Shaffir: Endlich aufzuwachen.

Mikhaylova: Die Jungen haben mehr Energie. Wir sind der Motor jeder sozialen Veränderung.“(aus: Die Zeit, 19.8.2011: Aufstand der Jungen “Wir sind jetzt alle Politiker”)

Shaffir: Ich glaube, die Menschen fangen langsam an zu verstehen, dass Gewaltlosigkeit eine der wichtigsten Regeln der modernen Revolution ist. Ich hoffe, dass wir so weitermachen. An vielen Orten auf der Welt sind es heute eher die Regierungen, die gewalttätig sind, nicht die Bürger.“ (aus: Die Zeit, 19.8.2011: Aufstand der Jungen “Wir sind jetzt alle Politiker”)

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