Eines der großen englischen Fiaskos während des ersten Weltkriegs war die so genannte Schlacht von Gallipoli, bei der die britischen und französischen Truppen nach einer offensichtlich erfolgreichen Landung am Kap Helles eingeschlossen blieben und somit dem osmanischen Heer ausgeliefert waren. Neben einem beträchtlichen Verlust von Kriegsschiffen schätzt man, dass die menschlichen Verluste von nur dem englischen Heer eine Viertel Millionen erreichten, indem ca. zweihundertfünfzigtausend Soldaten das Leben verloren. Das Desaster selbst hatte unvermeidliche politische Auswirkungen, welches Winston Churchill, der bis dahin Marineminister war und erster Vorantreiber der Kampagne, in Ungnade fallen ließ und dem Beginn der legendären Reputation des Nationalhelden General Atatürk diente, der Gründer und erster Präsident der modernen Türkischen Republik war.
So wie in vielen anderen Gräben während der vier Kriegsjahre manifestierte sich in der Schlacht von Gallipoli, und wie es seit der entferntesten Antike, von der uns Zeugnisse vorliegen, überliefert wird, die Kapazität des Onirismus über das Individuelle hinaus zu gehen und sich in eine kollektive Erfahrung zu verwandeln. Es ist tatsächlich dokumentiert, dass die Soldaten gemeinsame Träume hatten, häufig Albträume, in denen sie gleichzeitig die selben Szenen mit mehr oder weniger Varianten geträumt haben.
Auch wenn es sich in den Antipoden befindet ein Albtraum zu sein, ausgenommen vielleicht für die Meister des schlechten Geschmacks und der präfabrizierten Musik, hat das durchwegs schöne letzte Album von PJ Harvey Let England Shake (2011) auch die Qualität von Träumen, Gräben und Nebel. Eine kritische und zornige Erforschung des Englischseins durch eine historische Route der Kriege und ihrer Folgen, der grauenhaften Zerstörung des Eigenen und des Fremden, in welcher das Vereinte Königreich seine Spuren hinterlassen hat. Drei Stücke des Albums sprechen direkt von dem Massaker von Gallipoli und eine andere Handvoll bezieht sich etwas genereller auf die beispiellose Verwüstung, die während des großen Krieges verursacht wurde. Obwohl die Überprüfung des Phänomens, die durch eine Kritik ohne eindeutige Botschaft gekennzeichnet ist (ein Teil des Reichtums der Platte besteht in ihrer Mehrdeutigkeit und der Art und Weise, in der sie viel Platz lässt für die eigenen Rückschlüsse des Hörers) und die erschütternde Lyrik einiger Wörter und Sätze, die dank des sehr genauen Handwerks der Sprache wie eingemeißelt wirken, viel früher anfängt und bis in jüngere Zeiten reicht, mit den britische Intervention in den Kriegen von Afghanistan und Irak…
Es sind auf eine Art und Weise die Stimmen der Toten welche wir in diesen Songs hören, übermittelt durch Melodien von hypnotischer Stärke und Schönheit und präsentiert durch eine Erzählerin mit einer überraschenden und unerschöpflichen Fähigkeit zur Kreation von Bildern.
Die Platte wurde durch Publikum und Kritiker enthusiastisch aufgenommen, viele von ihnen halten sie für die bis heute beste Arbeit von PJ Harvey. Und da es sich um eine Künstlerin handelt, die einige der wichtigsten Alben der letzten zwei Jahrzehnte geliefert hat, ist dies kein geringes Kompliment.