Neun Monate zu spät.

ES SCHEIN EIN UNGESCHRIEBENES GESETZ ZU SEIN, DASS DIE GRAUSAMKEIT DES KÖNIGS VON DESSEN BÜTTEL ÜBERTROFFEN WERDEN MUSS.
(Vincent Deeg)
Ganze zweieinhalb Stunden schon schlichen der neunzehn jährige Chris und sein etwa eben so alter Freund Christian durch die menschenleere und im Dunkel des bereits späten Februarabend liegende Kleingartenkolonie Holunderbusch.
Zweieinhalb unendlich erscheinende und zermürbende Stunden, in denen sie, während ihnen langsam die Kälte in die Knochen kroch, immer wieder geduckt in ihre näheren Umgebung lauschten und sich nach allen Seiten umsahen.
Doch was hatte diese beiden jungen Männer an diesen Ort gezogen? Was konnte diese Kleingartenkolonie an sich gehabt haben, dass sie so sehr interessierte? Das sie sogar die Kälte in Kauf nehmen ließ, die an diesem späten Abend herrschte.
Waren es vielleicht die Gartenlauben oder besser gesagt deren Inhalte, die es Chris und Christian angetan hatten? Waren es die Vorräte, die man darin lagerte oder vielleicht die elektrischen Geräte, Radiorekorder, Tonbänder oder Kofferfehrnseher, die ihre Besitzer unachtsam darin stehen gelassen hatten? Gehörten die beiden vielleicht zu denen, die sich nachts in diese Gegend schlichen um Gartenlauben aufzubrechen und auszurauben?
Nein. Diese jungen Männer, die weder Einbrecher noch Diebe waren, hatten ein anderes Ziel. Ein Ziel, das nun direkt vor ihnen lag.
Es war die dreieinhalb Meter hohe Hinterlandmauer, die sie, neben dem direkt dahinter liegenden Todesstreifen, dem Grenzsignalzaun, dem betonierten Kolonnenweg, der mit Lichtmasten versehenen war, die diesen, jeweils im Abstand von fünfundzwanzig Metern hell erleuchteten, so dass die Grenzsoldaten, die sich in regelmäßigen Abständen darauf bewegten alles sehen konnten, dem Sperrgraben, den man gegen Grenzdurchbrüche mit Fahrzeugen eingerichtet hatte und zu guter letzt dem vorderen Sperrelement, ein zwei Meter neunzig hoher Streckmetallzaun, der das Ende dieser Todesstrecke bildete, die den Ostteil vom Westteil der Stadt trennte und die sie noch in dieser Nacht überqueren wollten.
*
Etwa anderthalb Jahre war es her, als die beiden Freunde beschlossen, ihr Leben in der DDR zu beenden und nachdem ein, für ihre Flucht geeigneter Plan geschmiedet war, gemeinsam in den Westen zu fliehen. Ein Plan jedoch, der erst 1989 konkret werden sollte. Als Chris erfuhr, dass er kurz davor stand, zum Wehrdienst einberufen zu werden.
Dies und der Schwedischen Ministerpräsident, der kurz zuvor nach Ost-Berlin zu Besuch gekommen war, veranlasste Chris und Christian am fünften Februar, an dem sich beide einen Tag Urlaub nahmen, ihren bereits bis ins Detail ausgearbeiteten Fluchtplan in die Tat umzusetzen.
Doch was hatte dieser Schwedische Ministerpräsident damit zutun? Eine Frage, deren Antwort in dem Gerücht liegt, von dem die beiden Freunde erfahren hatten und in dem es hieß, dass man während einer hochrangigen Staatsvisite, wie dieser Besuch einer war, den an der Grenze herrschende Schießbefehl für die Dauer dieses Besuches aussetzen würde, dass also, solange dieser Ministerpräsident in der Stadt war, keiner der Grenzer auf irgendjemanden schießen dürfe.
War dies eine Tatsache oder nur eines dieser unsinnigen und sich schnell verbreitenden Gerüchte, die jemand, aus welchen Gründen auch immer in die Welt gesetzt hatte?
Chris und Christian sollten es schon bald erfahren. Als sie, in der Hoffnung, alle auf sie lauernden Sperren unbemerkt überwinden zu können, eine halbe Stunde vor Mitternacht hinter der Parzelle zweiundfünfzig die Hinterlandmauer überkletterten, als einer von ihnen, noch während sie durch den Signalzaun schlüpften, den Alarm auslöste. Als sie, trotz dem sie aufgeflogen waren nicht aufgaben und stattdessen weiter liefen. Weiter in Richtung des Streckmetallzaunes. Der letzten Barriere, die sie noch von dem nahen Westen, die sie noch von der nun beinahe greifbaren Freiheit trennte. Aber auch die Barriere, an der ihre Flucht ein jähes und tragisches Ende fand.
*
„Schieß doch!“ Rief der Postenführer Schubert* seinem Kameraden Hermann* zu, gerade als sie sich den beiden Flüchtenden, die mit einer Räuberleiter versuchten, den letzten Zaun zu überklettern auf vierzig Meter genähert hatten. Sie hatten Dienst auf einem der nahe gelegenen Wachtürme und waren, so wie das andere, sich schnell nähernde und „Halt! Stehen bleiben!“ rufende Postenpaar auch, sofort nachdem der Alarm ausgelöst worden war, herbei geeilt um diesen Fluchtversuch mit allen Mitteln zu vereiteln.
„Schieß doch!“ Rief Schubert* erneut. Und dieses Mal ließ sich Hermann* nicht lange bitten. Stattdessen kniete er sich hin, brachte sein russisches und schnell entsichertes AK47 Sturmgewehr in Anschlag und eröffnete mit zwei gezielten Schüssen das Feuer. Zwei Schüsse, die Chris nicht nur beide in die Beine trafen und die Räuberleiter zum Einsturz brachten, sondern die auch ihren Fluchtversuch schlagartig zum Scheitern verurteilten.
Eine Tatsache, die jedem, der in dieser furchtbaren Nacht beteiligt war, klar gewesen sein dürfte. Jedem. Bis auf den Schützen, der, noch während die beiden jungen Männer zu Boden stürzen erneut feuerte.
*
Es ist 23.39 Uhr, als Schubert, Hermann und das andere Postenpaar die gescheiterten und verletzten Flüchtlinge erreichen. Vier Grenzsoldaten, von denen Christian, der ebenfalls etwas abbekommen hatte, als Schwein bezeichnet und mit vorgehaltener Waffe und den Worten „wenn du dich rührst, drücke ich ab!“ bedroht wird und die sich nur wenig, bis gar nicht für die schweren Verletzungen von Chris interessieren und den, durch den letzen, von Heinrich abgegeben Schuss in die Brust getroffenen und auf Grund einer daraus resultierenden Herzverletzung im Sterben liegenden Jungen genauso brutal durchsuchen, wie zuvor seinen Freund.
*
Christian wird noch in derselben Nacht, nach Versorgung seiner Schusswunde der Staatssicherheit überstellt, die ihn sofort verhört. Was seinen Freund Chris anbelangt, so stellte ein herbeigerufener Arzt der Grenztruppen gegen 0.15 Uhr seinen Tod fest.
Eine Feststellung, von der Chris Mutter erst zwei Tage später erfahren sollte. Als sie die Männer der Staatssicherheit abholten und ihr während eines Verhöres sagten, dass ihr Sohn Chris bei einem „Attentat auf eine militärische Einheit“ getötet wurde.
*
Chris Mutter stellte damals einen Ausreiseantrag in die BRD, der im September genehmigt wurde. Im Januar 1990 stellte sie beim DDR-Generalstaatsanwalt Strafanzeige gegen die Grenzer, die unmittelbar am Tot ihres Sohnes beteiligt waren und die vom damaligen Chef des Grenzkommandos Mitte mit dem Leistungsabzeichen der Grenztruppen und je 150 Mark Prämie ausgezeichnet wurden.
Ihre Hartnäckigkeit sorgte letztendlich dafür, dass 1991 der erste Mauerschützenprozess begann. Ein Prozess jedoch, dessen Ergebnis eher unbefriedigend war. Denn das Gericht sprach zwei der Anklagten im Januar 1992 frei und verhängte gegen einen weiteren eine zur Bewährung ausgesetzte Strafe. Hermann, der den tödlichen Schuss abgegeben hatte, erhielt eine dreieinhalb-jährige Freiheitsstrafe. Nach einer erfolgreichen Revision beim Bundesgerichtshof wurde das Urteil 1994 auf zwei Jahre mit Bewährung reduziert. Die anderen drei Angeklagten wurden freigesprochen.
Und was wurde damals aus Christian? Er wurde drei Monate nach den Schüssen, am 24. Mai 1989, vom Stadtbezirksgericht Pankow wegen „versuchten ungesetzlichen Grenzübertritts im schweren Fall“ zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Im September 1989 wurde er von der Bundesrepublik freigekauft und am 17. Oktober 1989 nach West-Berlin abgeschoben.
**
Chris Gueffroy ist das letzte Opfer des Schießbefehls an der Berliner Mauer. Er starb in der Nacht des fünften Februar 1989. Durch die Kugel eines begeisterten Todesschützen.
Ein junger und hoffnungsvoller Mensch, für den der Mauerfall neun Monate zu spät kam und dessen Grab noch weit nach der Wende wiederholt geschändet wurde. Ein Opfer des SED Regime, für das, neben dem Weißen Kreuz am Reichstagsufer, am 21. Juni 2003 am Ufer des Britzer Verbindungskanal eine Gedenkstätte errichtet wurde, die stellvertretend auch an all die anderen Opfer des DDR-Unrechts erinnert soll.
Dessen nicht genug wurde am 13. August 2010 die Britzer Allee zwischen Treptow und Neukölln in Chris-Gueffroy-Allee umbenannt.
*Diese Namen wurden geändert.
Neun Monate zu spät. 
Neun Monate zu spät.

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