Netzwerk des Verbrechens - »Die Gauklerin. Der Fall Timoschenko«

Vorabdruck eines Buches - Von Frank Schumann (jW)Netzwerk des Verbrechens - »Die Gauklerin. Der Fall Timoschenko«
Folgenreiche Liaison: Juri G. Bober mit Timoschenko-Bild
Foto: Frank Schumann
Die ehemalige Regierungschefin der Ukraine, Julia Timoschenko (51), wurde 2011 zu sieben Jahren Haft verurteilt – wegen der gleichen Delikte, deretwegen Timoschenkos Protegé Pawlo Lasarenko, 1996/97 Ministerpräsident der Ukraine, in den USA neun Jahre bekam: nämlich wegen Geldwäsche, Korruption und Amtsmißbrauch. Nun steht eine weitere Klage ins Haus: Beihilfe zum Mord. Über Timoschenkos Konten sollen jene Millionen geflossen sein, mit der eine elfköpfige Bande bezahlt wurde, die 1996 in Donezk einen politischen Konkurrenten aus dem Weg räumte.
Der Umstand, daß in der Bundesrepublik Timoschenko erstaunlicherweise und sehr apodiktisch als unschuldiges Opfer und nicht als kriminelle Strippenzieherin dargestellt wird, veranlaßte den Berliner Verleger und Publizisten Frank Schumann, sich in der Ukraine umzuschauen. Er sprach mit Juristen, Parlamentariern, Ärzten, Ermittlern, Häftlingen und Zeugen, war in Gefängnissen, Gerichtssälen und auch in der neunten Etage des Eisenbahnerkrankenhauses in Charkow, in denen aktuell Timoschenko behandelt wird. Und machte sich ein eigenes Bild. Im September erscheint in der edition ost sein Buch »Die Gauklerin. Der Fall Timoschenko«; hier ein komprimierter Auszug.
Der Mann sieht aus wie Max Schmeling. Die Nase breit wie die eines Boxers, die Schultern noch immer mächtig ausladend, im kurz geschnittenen Haar ist kein einziges graues zu entdecken. Er legt, vor Beginn unseres Gespräches, zwei Handys vor sich auf den Tisch. Sie werden in den nächsten zwei Stunden wiederholt im Wechsel klingeln, nicht jeden Anruf drückt er weg. Auch die Intonation erinnert an Schmeling oder richtiger, da er ja russisch spricht, an Breshnew: leicht schleifend und nuschelnd, jeden zweiten Satz mit »no« beginnend oder endend. Das ist nicht so leicht feststellbar: Die Sätze fließen übergangslos ineinander. Es scheint, als habe er nur darauf gewartet, daß er endlich einmal seine ganze Geschichte über jahrelange Bedrängung und Bedrückung erzählen kann, da kennt er keinen Punkt, kein Komma.
Sein Thema liegt vor ihm auf dem Tisch, neben den Mobiltelefonen. Das Farbfoto zeigt ihn und Timoschenko in einem Büro, das sehr amtlich wirkt, nicht nur wegen der Fahnen. Auf dem Schreibtisch ist auch ein gerahmtes Foto zu erkennen mit einem langhaarigen Mädchen, welches unschwer als Timoschenkos Tochter auszumachen ist: Jewgenija reiste schließlich soeben durch Deutschland und dessen Gazetten. Geradezu schutzsuchend klammert sich das Persönchen mit dem geflochtenen Haarkranz und im Busineßdreß an diesen Schrank von Mann. So schmiegt sich keine Bürochefin an einen Mitarbeiter, es sei denn, die beiden verbindet mehr als nur ein Arbeitsverhältnis.
Ein begehrtes Fotoalbum
Der Mann mir gegenüber und auf dem Foto heißt Juri Grigorewitsch Bober, ist um die 50 und hat eine 27jährige Tochter, die in Kiew studiert. In Schytomyr – als Himmler dort seine SS-Siedlung Hegewald anlegte, schrieb es sich noch Shitomir – leitet Bober eine Organisation von Versehrten und Kriegsinvaliden, die zählt an die fünfzigtausend Mitglieder. Als Wählerschaft keine unbedeutende Größe, zumal in der Ukraine etwa anderthalbhundert Parteien um Parlamentssitze kämpfen. Ihre Zahl kennt man nicht so genau, was dem steten Wechsel von Namen und Verbindungen geschuldet ist, und die wenigsten sind wohl nach unserem Verständnis so etwas wie eine Partei.
Bober hatte vor etwa zehn Jahren, nun ja, eine Affäre mit Timoschenko. Das war jene Phase zwischen ihrer Untersuchungshaft, nachdem sie von Präsident Leonid Kutschma wegen undurchsichtiger Geschäfte im Energiesektor als Vizepremier entlassen worden war und vor der Bildung des »Blok Juliji Timoschenko« (BJut), einer Partei oder Allianz, wie man will, welche bei den Parlamentswahlen 2002 etwas über sieben Prozent bekam. Fortan galt Timoschenko im Westen als demokratische Oppositionsführerin gegen den »Diktator Kutschma«, ein Bild, an dem sie selbst sehr arbeitete und dies noch immer tut. Später sollte ihr parlamentarischer Bundesgenosse Wiktor Juschtschenko Präsident werden und sie 2005 zur Ministerpräsidentin machen, doch dann trennten sich ihre Wege. Juschtschenko: Das war der Führer der sogenannten Orangen Revolution, bei dem man bis heute nicht weiß, ob eine mißlungene Schönheits-OP oder die Unverträglichkeit eines neuen Medikaments mit starkem Alkoholkonsum zu diesen auffälligen Veränderungen im Gesicht führten, welche propagandistisch als Folge eines Giftanschlags ausgegeben wurden. Doch das führt an dieser Stelle zu weit: Uns interessiert die Zeit, in welchem Bober und Timoschenko ein Paar waren, und die daraus folgenden, für ihn schmerzhaften Konsequenzen.
In jenen knapp zwei Jahren ließen sich beide gern gemeinsam ablichten: bei Waldspaziergängen wie bei Saunabesuchen. Die Fotos füllten bald ein ganzes Album, wie Bober stolz berichtet, doch warum er dieses in einen Tresor legte und mit welcher Absicht, oder noch einfacher gefragt: Warum er überhaupt einen Safe in seiner Wohnung in der Saksaganskogo 139 in Schytomyr besaß, bleibt sein Geheimnis. Darauf geht er allenfalls mit der Bemerkung ein, seine eigene Wohnung sei renoviert worden, jene sei also ein in der fraglichen Zeit angemietetes Ausweichquartier gewesen. Mithin: der Tresor sei bereits vorhanden gewesen.
Bober berichtet lakonisch, wie er, inzwischen schon lange von Timoschenko getrennt, mit seinem Bodyguard und einer weiblichen Begleiterin nach Mitternacht in eben jene Wohnung zurückgekehrt sei, wo er bereits von drei Männern erwartet wurde. Sie trugen Uniform und Masken und seien noch größer und kräftiger gewesen als er selbst. Bober springt auf und demonstriert das Gerangel und Gezerre, das es dann gegeben habe. Jeden Handgriff, jeden Schlag, den er als trainierter Boxer abwehrte, zeigt er anschaulich.
Man wollte das Fotoalbum haben, sagt er, doch die Hilferufe der Frau an seiner Seite und sein Widerstand hätten die Männer in die Flucht getrieben.
Und sein Leibwächter, frage ich.
Der habe, wie er später erfuhr, mit denen zusammengearbeitet, der war gekauft. Verrat nach sechs gut bezahlten Jahren bei ihm. Bobers gezeigte Enttäuschung aber hält sich in Grenzen: Die Praxis ist so unüblich in der Ukraine nicht. Selbst Abgeordnete in der Werchowna Rada, dem Parlament, wechseln rasch mal die Lager bei entsprechenden Angeboten. Als BJuT mit ihrer Galionsfigur Timoschenko 2010 nach einem parlamentarischen Mißtrauensantrag aus der Regierung flog und die Parteikasse nicht mehr so viel hergab, gingen anschließend nach und nach an die dreißig Abgeordnete von der Fahne. »Tuschka« riefen ihnen Timoschenkos Anhänger abschätzig hinterher, »Tuschka« mit langem U. So heißen in der Ukraine die tiefgefrorenen Hähnchen im Supermarkt. 
»Sieh dich vor«
Netzwerk des Verbrechens - »Die Gauklerin. Der Fall Timoschenko«
Protest für die »Freiheitsheldin« vor dem Gerichtsgebäude am Kretschatik in Kiew
Foto: Frank Schumann
Seinen Fahrer hätten die maskierten Männer auch zwei Stunden durch die Mangel gedreht, damit er ihnen verriete, wo sich der Schlüssel von dem Tresor befände. Doch der wußte es wirklich nicht. Darum hätte man schließlich den Safe aus der Wand gebrochen und die 120 Kilo einfach davongetragen. Der Überfall diente darum nur dem einen Zweck: von ihm den Schlüssel oder das Album mit den vermutlich kompromittierenden Fotos zu bekommen. Nach dem Bruch müssen sie das Ding aber aufbekommen haben, denn sein von der Miliz später inhaftierter Leibwächter sagte ihm bei der Gegenüberstellung, daß er, Bober, ihm etwas schulde, schließlich habe er erfolgreich verhindert, daß Bobers Tochter als Geisel von den Banditen genommen wurde. Bis auf das Geld (und natürlich das Album) werde ihm alles zurückgeben werden, Dokumente, Ausweise, der Schmuck der Tochter.
Bober sagt, er habe darauf nicht reagiert. Und bekam schon am nächsten Tag eine SMS: Viele Grüße von Zhebriwskij, sieh dich vor!
Die Drohung des offensichtlich freigelassenen Leibwächters verriet einiges. Zhebriwskij war Gouverneur des Gebietes Schytomyr, Abgeordneter der Rada und Freund des Innenministers Juri Luzenko, der damals dem Timoschenko-Lager zugerechnet wurde. (Nebenbei: Luzenko wurde 2010 abgesetzt und wegen Unterschlagung von Staatsvermögen und Amtsmißbrauch zu vier Jahren verurteilt. Die stets kundige BRD-Staatsministerin Cornelia Pieper, FDP, monierte das Verfahren in einer Erklärung als »selektive, politisch motivierte Justiz«.)
Bobers Tochter schrieb in jener Zeit der Nachstellungen und Drohungen einen herzerweichenden Brief an die damalige Ministerpräsidentin Timoschenko und bat diese, sich für die Sicherheit ihres Vaters einzusetzen: Liebe Julia Wladimirowna, als Sie mit meinem Vater waren, hat man uns verfolgt. Jetzt aber nehmen die Probleme zu. Bitte helfen Sie uns.
Man werde der Sache nachgehen, hieß es. Angeblich habe man, sagt Bober, anschließend drei Jahre ermittelt und nicht herausbekommen, wer hinter dem Überfall steckte.
Wer, frage ich Bober, steckt seiner Vermutung nach dahinter.
Der Chef des Boxerverbandes in Schytomyr senkt die breiten Achseln. Seine mit viel »no« garnierten Ausführungen enthalten wiederholt das Wort »Kompromat«. Den Begriff »erfand« der KGB, er floß auch in die Sprache des MfS ein. Es bezeichnet Material, mit dem Geheimdienste weltweit Politiker oder mißliebige Personen des öffentlichen Lebens diskreditieren wollen. Meist aber reicht schon die Androhung, also eine Erpressung, um sie zu den gewünschten Reaktionen zu bewegen.
Also das Fotoalbum als Kompromat. Wer sollte damit erpreßt werden? Er, Timoschenko? Und wozu? Oder wollte sie verhindern, daß die offenherzigen Fotos im Wahlkampf als Munition gegen sie eingesetzt würden? Fragen ohne Ende.
Bober dreht die Flächen seiner großen Hände nach oben. Das sollte ermittelt werden: wer da warum welche Strippen gezogen hatte.
Was habe er selbst unternommen, um die Sache zu forcieren, wenn denn die Behörden nur im Nebel stocherten?
Einiges, sagt Bober. Unter anderem hätte er mit einem Berater von Innenminister Luzenko gesprochen. Der habe aber nach seinem Vortrag nur gefragt: Hast du ein Busineß?
Nein, hatte Bober geantwortet.
Schlecht für dich, denn die Lösung deines Problems kostet einiges.
Wieso soll ich dafür zahlen, wenn ich Recht und Gesetz einfordere, antwortete Bober, worauf der Mann des Innenministers nur gegrinst habe …
Offenkundig beginnen sich inzwischen die Verhältnisse in der Ukraine ein wenig zu ändern, sagt Bober und erhebt sich. Eine neue Generation in der Justiz und in den Ministerien sei im Kommen und beginne im Lande aufzuräumen. Er verabschiedet sich. Die mir zugestandene Zeit ist vorüber, er ist im Wahlkampf, im Oktober wird ein neues Parlament in der Ukraine gewählt. Er gehe jetzt nämlich in die Politik. Das schien ihm die wirksamste Möglichkeit, daß neue, unbelastete Leute endlich Ordnung schafften. »Oder wie sagt man bei Ihnen: Rechtsstaatlichkeit.« 
Der Ankläger: Renat Kuzmin
Anderentags bin ich in der Riznytska-Straße, in einem gewaltigen Gebäude mit einem alten und neuen Teil. Hier sitzt die Instanz, die »Rechtsstaatlichkeit« herstellen soll. Ohne den Mann, der mich an der Wache abholt und über viele Treppen und verwinkelte Gänge, in denen dicke Teppiche jeden Tritt schlucken, in das Zimmer von Renat Kuzmin führt, hätte ich das Büro des 1. Stellvertretenden Generalstaatsanwalts der Ukraine nie gefunden. Der Mittvierziger mit dem grauen Dreitagebart schaut ernst, er wirkt älter. Er gilt als Schlüsselfigur auch im Fall Timoschenko. Der 1991er Absolvent der Ukrainischen Akademie der Rechtswissenschaften, ist, wie es heißt, offiziell zuständig für die unmittelbare Beaufsichtigung des Außenministeriums sowie für internationale Zusammenarbeit und Rechtshilfe. Ihn steuern darum vorrangig die protestierenden Politiker des Westens an, wenn sie Klage im Fall Timoschenko führen.
Kuzmin, das merke ich gleich, sitzt nicht grundlos auf diesem Stuhl: Er argumentiert logisch und überzeugend, mit Geist und Anflügen von Witz, was erklärt, warum er Stammgast in einschlägigen Fernsehsendungen ist. Nicht nur seine Sekretärin, die jedes Wort von ihm und mir protokolliert, scheint ihn zu bewundern. An der linken Seite des schweren Tischs hat der dickliche Schnauzbart Platz genommen, der mich schweigend durchs Haus geführt hat. Auch er spitzt den Stift, nachdem Kuzmin und ich die Visitenkarten getauscht haben. Von Berlin hatte ich per Fax um das Interview gebeten. Er bewilligte mir eine halbe Stunde, am Ende sollen es zwei werden. Am Vortag waren zwei Europaabgeordnete bei ihm, das Gespräch war schon nach 15 Minuten vorüber. Es käme immer darauf an, welche Fragen man ihm stelle, sagt Kuzmin grienend an der Tür, als er mich verabschiedet.
Zurück auf Anfang: Kuzmin kennt die Vorhaltungen zur Genüge. Im Vorgriff auf meine erwartete erste Frage, die ich aber nicht auf den Lippen hatte, erklärt er mir, daß die ukrainische Justiz bereits seit anderthalb Jahrzehnten gegen Frau Timoschenko ermittle, praktisch unter allen Präsidenten. Es habe zehn strafrechtliche Ermittlungen gegeben, das erste Mal seien sie, ihr Mann und der Buchhalter 2000 inhaftiert worden. Das Verfahren, welches im Vorjahr zum im Westen kritisierten Urteil führte, gehe auf den Gasvertrag mit Rußland von 2009 zurück. Seinerzeit habe Präsident Juschtschenko auf einer außerordentlichen Sitzung des nationalen Sicherheitsrates die Justiz aufgefordert, der Sache nachzugehen. Die Ermittlungen seien aber erst abgeschlossen worden, als bereits Janukowitsch, der aktuelle Präsident, im Amt war. Mithin: Es sei eine Mär, Frau Timoschenko sei aus politischen Gründen von ihren Gegnern kriminalisiert worden; als sie noch Ministerpräsidentin war, sei sie keine Heilige mit weißer Weste gewesen.
Zu Timoschenkos politischen Opfern, das aber sagt Kuzmin nicht, gehört er selbst. 2003 hatte man ihn zum Leiter der Staatsanwaltschaft in Kiew berufen, nach der sogenannten Orangen Revolution, die Timoschenko zur Ministerpräsidentin machte, wurde er degradiert: Innenminister Luzenko und andere warfen ihm vor, zu nachsichtig gegen Korruption und Machtmißbrauch vorzugehen. Das Gegenteil jedoch war der Fall: Kuzmin war bestimmten Kräften zu unnachsichtig, darum mußte er weg. Ende 2010 ernannte ihn Generalstaatsanwalt Viktor Pshonka, der die neuen Antikorruptionsgesetze auf den Weg brachte, zu seinem ersten Stellvertreter. Kuzmin stammt aus Donezk, Pshonka war dort Staatsanwalt und Janukowitsch einst Gouverneur. Das aber besagt gar nichts.
Man plane, wie zu lesen ist, ein weiteres Verfahren gegen Timoschenko, sage ich, und lasse den Namen Jewgenij Scherban fallen.
Kuzmin zieht den linken Mundwinkel nach oben, er scheint gleichermaßen amüsiert wie irritiert. Darf er mir sagen, was er auf dem Tisch hat? Andererseits, ein Verfahren kann ja erst schweben, wenn es eröffnet ist. Nur der Zeitpunkt verurteilt ihn zum Schweigen. 
Mörderische Gang
Netzwerk des Verbrechens - »Die Gauklerin. Der Fall Timoschenko«
»Timoschenko ist eine Verbrecherin«: Renat Kuzmin, Erster Stellvertreter des Generalstaatsanwalts der Ukraine
Foto: Frank Schumann
Ende 1996 starben auf dem Flugplatz von Donezk vier Menschen, darunter eben jener Scherban und dessen Frau. Es wurde eine elfköpfige Bande ermittelt. Fünf ihrer Mitglieder kamen bald um, zwei Täter wurden in Rußland dingfest gemacht und verurteilt, vier sind noch immer »auf der Flucht«. Welche Rolle spielte Timoschenko dabei?
Kuzmin redet mit leiser Stimme. Die Sätze sind kurz und klar, nicht so weitschweifig wie gemeinhin bei den Vertretern seiner Zunft. Und selbst dann, wenn er explizit betont, Jurist und nicht Politiker zu sein, sind seine Ausführungen durch und durch politisch. In jener Zeit, sagt er, seien Kutschma Präsident und Lasarenko Premierminister gewesen, und auch der Generalstaatsanwalt Borsinow als Dritter im Bunde stammten wie jene beiden aus Dnepropetrowsk. Und natürlich auch Julia Timoschenko, die von Lasarenko 1995 zur Chefin des staatlichen Energiekonzerns EESU gemacht worden war. Das ganze Netzwerk verdiente prächtig daran, Erdgas aus Rußland billig einzukaufen und dreimal so teuer im Lande zu verhökern: mittels eines Zwischenhändlers auf Zypern – einer Firma, die zu großen Teilen Frau Timoschenko gehörte, wie die späteren Ermittlungen ergaben. Zu den Hauptabnehmern des Gases gehörten Konzerne im Osten der Ukraine, die sich aber weigerten, statt der üblichen 25 Dollar die nunmehr geforderten 83 für die Einheit zu zahlen. Die »Donezker« hätten sich gegen Timoschenko und Lasarenko verbündet, den Widerstand führten die Unternehmer Momot, Schwedschenko und Scherban, der im Parlament auch die stärkste Fraktion leitete. Natürlich, das wolle er, Kuzmin, nicht in Abrede stellen, es handelte sich um einen Kampf um die Neuverteilung des Gasmarktes und -netzes, da seien sich Oligarchen gegenseitig an die Kehle gegangen, wobei der Begriff »Oligarch« nie fällt, sondern Umschreibungen bevorzugt werden. Die drei Personen aus Donezk wurden ermordet, der Konkurrenz- und Machtkampf war damit entschieden: Die eingeschüchterten Unternehmer in der Ostukraine und anderswo bezahlten fortan die von der EESU geforderten Preise. Bis Lasarenko als Premier entlassen und schon bald, wie erwähnt, in den USA für seine kriminellen Geschäfte in der Ukraine verurteilt wurde.
Ob es denn wirklich Belege gäbe, daß die nachmalige Ministerpräsidentin nicht nur Nutznießerin dieser windigen Gasgeschäfte, sondern auch an den Morden beteiligt gewesen wäre, will ich wissen. »Wir haben ausreichend Hinweise, die ihr Interesse an einer Beseitigung Scherbans belegen.« Ich hole tief Luft: Interesse sei kein Beweis.
Kuzmin winkt ab. Es gibt die Belege für Geldüberweisungen von Konten, die sie kontrollierte, und wir haben Zeugenaussagen, die sie als Organisator und Finanzier der Morde benennen.
Ein Zeuge heiße gewiß Wadim Bolotskich, einer der Verurteilten, frage ich. Genau, sagt Kuzmin, einer aus dieser Bande, die für Lasarenko und Timoschenko arbeitete. Die Ermittlungen ergaben, daß die Gang an 25 Morden und Mordaufträgen beteiligt war.
Und in allen soll Timoschenko involviert gewesen sein?
»Wir reden bislang davon, daß im Mordfall Scherban genug Gründe vorliegen, um Anklage gegen Julia Timoschenko zu erheben«, lautet die sibyllinische Auskunft. Timoschenko habe sich mit Mitgliedern der Bande getroffen und freundschaftliche Kontakte zu dessen Anführer Kuschnir unterhalten, legt Kuzmin nach. Konkretes werde man in der Anklageschrift lesen.
Da der stellvertretende Generalstaatsanwalt erkennbar kein Paragraphenreiter ist, was ich einigen Nebensätzen und süffisanten Kommentierungen entnehme, erkundige ich mich mutig auch nach den Amerikanern. Diese halten sich bislang – im Unterschied zu westeuropäischen Politikern – auffallend zurück, was wohl kaum der geographischen Ferne zuzuschreiben ist. In Georgien hatten sie sich auch engagiert, als Saakaschwili Georgien in die NATO führen wollte und scheiterte. Keine ehemalige Sowjetrepublik, die man nicht mit Geld und Geheimdiensten für sich gewinnen wollte. 
Worum es geht
Kuzmins Augen verengen sich erneut zu einem Schlitz, er wird einsilbig. Sie hätten Aussagen von einem Mitarbeiter des hiesigen Nachrichtendienstes SBU (Sluschba Bespeky Ukrajiny), der sich mit Kollegen von US-Geheimdiensten ausgetauscht habe. So habe man auch erfahren, daß im Lasarenko-Prozeß in den USA auch dessen Verbindung zur Kuschnir-Bande zur Sprache gekommen sei.
Pause.
Ruslan Scherban, der Vater des Mordopfers, habe sich an den US-Botschafter John F. Tefft mit der Bitte gewandt, ihm bei der Suche nach den Mördern seiner Eltern behilflich zu sein. Tefft – seit 2009 Botschafter in Kiew, zuvor war er als Diplomat in Moskau, Vilnius/Litauen und Tbilissi/Georgien tätig – hatte daraufhin erklärt, daß die Prüfung der Dokumente im Fall Lasarenko keine Beweise für eine Beteiligung Timoschenkos an den Morden geliefert hätten. »Daß der Botschafter nichts weiß, heißt ja nicht, daß nichts bei den Geheimdiensten der USA und der Ukraine läge«, schlußfolgert Kuzmin. Darum habe Generalstaatsanwalt Pshonka im Frühjahr 2012 offiziell Tefft ersucht, den Fall zu prüfen und jene relevanten Dokumente herauszugeben, die es nachweislich in den USA gäbe.
Und was sagt der Mann vom SBU zum Inhalt der Papiere?
»Er hat ausgesagt, wie die Verbrechen begangen wurden, wie Lasarenko und Timoschenko auf die Vertreter der Donezk-Region Druck ausgeübt haben, und wem er Belege über diese Verbrechen auf dem Territorium der Ukraine übergeben hat.«
Wann und wo?
»Das war 2005 in den USA.«
Und wem? Der CIA?
Kuzmin sieht mich an. Sein Gesicht ist eine Verschlußsache.
Ob sie bislang was aus den USA bekommen hätten?
Die Antwort ist einsilbig. Njet.
Kuzmin nippt am Wasserglas.
Ich wechsle das Thema. Sein Name stehe auf einer sogenannten Schwarzen Liste, welche die – natürlich von Timoschenko geführte – Opposition in Westeuropa und in den USA verbreitet. Darauf aufgeführt seien die »Feinde der Demokratie« in der Ukraine. Was er davon halte? Nichts, sagt Kuzmin, das sei nur Futter für die Presse. Ein namhafter Feind der Demokratie befinde sich derzeit in der neunten Etage des Eisenbahnerkrankenhauses in Charkow. »Timoschenko ist eine Verbrecherin. Diese Tatsache unterliegt keinem Zweifel.«
Nun hat aber jeder Strafprozeß gegen einen Politiker zwangsläufig eine politische Dimension, werfe ich ein, denn er wird ja nicht als Krimineller, sondern als Politiker verurteilt, weshalb es leicht sei, von politischer Repression zu sprechen.
Vor dem Gesetz sind zwar alle gleich, aber die, die die Gesetze machen, möchten dann doch ein wenig anders und nicht wie alle anderen behandelt werden, ergänzt Kuzmin lächelnd. Man habe zwar im ersten Verfahren juristisch gesiegt, aber politisch scheint noch immer Timoschenko zu gewinnen. Da sei sie zweifellos erfolgreicher als etwa Mosche Katzav. Er, Kuzmin, könne sich jedenfalls nicht erinnern, daß westeuropäische Politiker mit gleicher Leidenschaft protestiert hätten, als der israelische Staatspräsident zu sieben Jahren Haft verurteilt wurde, nachdem er wegen Vergewaltigung und sexueller Übergriffe im Amt für schuldig gesprochen wurde. Ihm sei auch kein Protest von Frau Merkel gegen die geheimen CIA-Lager in Europa oder das Camp in Guantánamo zu Ohren gekommen. Sie habe sich auch nicht für den verurteilten Expremier von Island, nicht für Prozesse in der Türkei und andere »politische Verfahren« in der Welt interessiert, wohl aber sorge sie sich um Frau Timoschenko und die Menschenrechte in der Ukraine. Ich sage es Ihnen so: Wir haben heute mehr Demokratie in der Ukraine als Sie in Deutschland. Es gibt Pressefreiheit, die Menschenrechte werden weder eingeschränkt noch unterdrückt. Es gelten offenkundig unterschiedliche Maßstäbe. Was Diktatur und was Demokratie ist, bestimmen die in Westeuropa herrschenden Kreise und ihre Medien.
Es gibt bei uns ein Sprichwort: Wer etwas erreichen möchte, sucht nach Wegen. Wer nicht will, sucht nach Ausreden. Wir wollen mit der Ukraine nach Europa, ohne unsere Brückenfunktion zu Rußland aufzugeben. Timoschenko hat Ja zu EU und zur NATO gesagt, die jetzige Administration hingegen sieht das ein wenig anders. Das ist der Kern des Problems. Man braucht im Westen Timoschenko, um uns die kalte Schulter zeigen zu können. Und wenn es diesen Fall nicht gäbe, hätte man etwas anderes gefunden, etwa daß unsere Autos stinken und gegen die Umweltrichtlinien der EU verstießen. Insofern ist Timoschenko ein Instrument des Westens. Und sie wiederum instrumentalisiert den Westen, seine Medien und die dortige Öffentlichkeit für ihre eigenen Interessen. Sie ist eine ziemlich clevere und kluge Geschäftsfrau und als Politikerin noch lange nicht erledigt.
Die jüngsten Umfragen sehen sie und ihre Partei Bjut bei etwa 20 Prozent.
Frank Schumann: Die Gauklerin - Der Fall Timoschenko. edition ost, Berlin 2012, 260 Seiten, 14,95 Euro * brosch., illustr., erscheint Ende September

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