Um 5.15 Uhr klingelte der Wecker. Zum Frühstück gab es Butylscopolaminiumbromid und eine in 200 ml Wasser aufgelöste Elektrolyt-Glucose-Mischung – meine vorausgegangene Nacht war also traumhaft. Trotzdem: Ich fühlte ich mich kräftig.
Ausgerechnet heute sollte aus in die Cordillera Blanca gehen, auf den Santa-Cruz-Treck – gezahlt hatte ich bereits. Keine Umkehr also. Um 6 Uhr wurde ich abgeholt. Vor der Agentur wurden die restlichen Abenteurer eingesammelt. Zunächst führen wir nach Yungay, 50 km nördlich von Huaraz. Die Fahrt glich einem Ritt auf einem Presslufthammer. Es ging mir nicht gut. Trügerischer Morgen. Die Welt im Fenster lenkte mich ab: Die Berge wuchsen in die Höhe. Sie wurden kahler. Auf einer Müllhalde sortierten Frauen Plastikflaschen. Mit bloßen Händen. Eine schwarze stinkende Rauchschwade wachte über ihnen.
Einmal mehr ist mir die Parteiwerbung in den Dörfern aufgefallen. Die hiesige Propaganda wird auf Wohnhäuser gepinselt, manchmal aber auch auf große Steine, Brückenpfeiler oder Brüstungen – öffentlichen Raum also. Man sagte mir, dass die Leute dafür bezahlt werden, dass man ihr Privat-Eigentum dafür verwendet. In der Regel steht der Name des Kandidaten in großen Lettern nebst einem kurzen prägnanten Slogan, wie z.B. ›Somos Peru‹ (›Wir sind Peru‹) geschrieben. Darüber hinaus hat jeder Politiker ein eigenes Signet. Je nach dem, ob sein Name, seine äußere Erscheinung, seine Botschaft oder sein Image dazu passen: Mache wählen ein Herz, welches die Worte ›Somos Peru‹ umschließt, andere entscheiden sich für einen Sombrero oder ein Laib Brot, manche präferieren eine Sonne, den verschnörkelten Anfangsbuchstaben ihres Namens oder – was mich anfangs irritierte – ein stilisiertes Abbild eines Chinesen, wie das Klischee es erfordert: Schlitzaugen, helle Haut, breites Grinsen, Reishut, schwarzer Zopf. Warum es mich irritierte? Nun, diese Signets werden mit roter Farbe durchkreuzt. Ich vermutete damals eine xenophobe aggressive Partei, die die asiatisch-stämmigen Menschen des Landes verweisen will. Der Hintergrund aber ist banaler: Signets sind einprägsamer und auch für diejenigen verständlich, die nicht lesen und schreiben können. Das Durchkreuzen ist lediglich eine offenkundige Art der Suggestion. Als ›Deutscher‹ bin ich geneigt zu denken, dass es eine naive, plumpe Art ist. Man kann aber auch meinen: unmissverständlich, ehrlich – kein ›um den heißen Brei reden‹.
Nach Fünf Stunden kamen wir an. Wir packten unsere Rucksäcke um, steckten Proviant ein, marschierten los. Der Lastenträger bepackte die Esel. Der Abstieg ins nächste Tal-Dorf war einfach und versprach viel. Ich erblickte die erste schneebedeckte Spitze eines Berges. Welch Schönheit! Ich stolperte, fing mich aber wieder. Auch in diesen Dörfern, überall Propaganda. Wir überquerten die erste Brücke und von nun an ging es bergauf. Und langsam fühlte ich einen Krampf im Magen. Die Gruppe entfernte sich. Ich schloss auf. Wir hielten. Wieder entfernte sich die Gruppe. Ich schloss auf, brauchte aber länger. Ungewöhnlich: Ich war der Jüngste in der Gruppe und allem Anschein nach, der Sportlichste. Und wieder konnte ich kaum Schritt halten. Die Schritte wurden mühsamer. Ich begriff, dass das Stolpern keine Träumerei war, sondern schwindende Konzentration, das Blut im meinem Kopf schwand. Die Krämpfe wurden stärker. Ich musste mir den Bauch halten, mich nach vor beugen. Tränen kamen hoch. Ich rief Ricardo hinterher. Fragte nach Toilettenpapier. Eine kleines Mädel kam mit Mutter und eine Herde Schafe vorbei. Es muss für sie ein entsetzliches Bild gewesen sein. Ricardo fühlte meine Stirn: Fieber! ›Deine Stirn ist kalt. Eiskalt.‹ Ich fühlte Schweißperlen auf der Stirn. Wut. Ich wollte nicht zurück. Ricardo ermutigte mich: ›Morgen wird es dir besser gehen, im Lager mache ich Dir Koka-Tee, wirst’ sehen! In zwei Stunden sind wir da.‹ Ich riss mich zusammen, und setzte wieder einen Fuß vor den anderen. Mein Magen grummelte, verhärte sich wieder.
Dann fand ich mich auf dem Boden liegend wieder. Ich spürte noch Ricardos und Karins Arme mich stützen und zu Boden gleiten, während ein schwarzer diffuser Strahlenkranz sich um mein Blickfeld zusammenzog. Die ersten Meter zurück begleitete mich Ricardo noch, dann musste er nach vorn, die Gruppe führen. Er erklärte mir den Weg. Ich war unsicher, zumal ich total entkräftet war. Mein Körper zitterte. Ricardo heuerte einen kleinen Jungen an. Er bat ihn mich zu begleiten. ›Und, nein, frag ihn nicht nach Geld, er hat keins. Ich hab ihm selbst gerade welches geliehen. Bring ihn nach Vaqueria. Nimm sein Rucksack.‹ Der Kleine ging mir voraus. Er war aufgeregt und gesprächig: Irgendwann begriff er, dass ich nicht reden wollte. Nicht konnte. Ich kämpfte. Schritt für Schritt. Immer wieder lies ich mich ins Gras fallen. Ich gab ihm Süßes aus meinem Lunch-Paket. Er bedankte sich. Mein Flasche Wasser war beinahe leer. Wir stapften weiter. Die Schwäche rang meine Wut nieder. Gleichgültigkeit. Ich wollte nur zurück nach Huaraz, ins Bett. Nach fast zwei Stunden erreichten wir das Dorf. Ich war ihm unendlich dankbar. Wir saßen auf der Bank. Es nieselte. Wolken sammelten sich an den Hängen. Eine junge Frau wusch im Becken Wäsche. Ihr Kleines kabelte auf allen Vieren aus der Haustür. Hundegebell. Ich gab ihm den Rest der Süßigkeiten. Er freute sich. Ich öffnete meinen Rucksack: ›Hier, Amigo, das ist für Dich. Später, wenn Du groß bist, wird es Dir passen. Pass gut auf! Is’n gutes Shirt!‹ Seine Augen leuchteten, er strahlte über beide Backen. Ich legte meine Hand auf seine Schulter. Dann stand er auf. Passierte die Straße, kickte Kieselsteine und hüpfte den kleinen Hang auf den Pfad hinab.
Und in seiner Hand flatterte mein blau-gestreiftes T-Shirt, dass mir Vater eins geschenkt hat.
Kurz danach kam der Bus Richtung Huaraz. Der Letzte. Glück im Unglück. Ich fiel auf die Hinterbank und schlief sofort ein. Eine Männerhand rüttelte mich jedoch bald aus dem Schlaf. Ich müsse noch zahlen. Danke für die Nachsicht, Du blindes Arschloch, dachte ich. Bei Ankunft ist dafür keine Zeit? Siehst Du nicht, dass ich mich kaum noch halten kann?
Es wurde Abend. Durch das verdreckte Fenster, zwischen den abgewetzten eingerissenen Vorhängen drangen die letzten goldenen Strahlen. Mein Gesicht wurde warm. Die Wolken begannen zu lodern. Die schneebedeckten Berggipfel wurden orange, dann rot. Und dann schloss der Tag seine Augen.