Delhi, 6 Uhr. Der Wecker des iPhones war überflüssig. Seit einer Stunde liege ich wach, obwohl ich hundemüde sein müsste. Meine innere Uhr ist am 3. Tag noch nicht wirklich in Delhi. Ich starre an die Decke. Es ist laut hier. So laut, dass ich das Gefühl habe, auf einer Bank, mitten auf einer der belebtesten Strassen Delhis zu liegen. Die kleine, heruntergekommene Gasse vor meinem Fenster, entpuppt sich als sehr beliebte Durchfahrtsstrasse für TuckTucks (Motor-Rikschas) ohne Auspuff. Das bunte und sehr freundlich aufgemalte “please blow horn” auf der Rückseite eines jeden TuckTucks wird vom gemeinen, indischen TuckTuck-Fahrer sehr ernst genommen. Und diese kleine süsse heruntergekommene Gasse wurde offenbar so konstruiert, dass sich die Schallwellen optimal verstärken. Was böte sich denn anderes an, als hier ein Hotel hinzusetzen?
Ich starre an die Decke und zähle nicht, wie oft ich ein Hupen höre, sondern wie lang die Lücke zwischen dem Gehupe ist. Bisheriger Rekord: 5 Sekunden ohne Hupen! Und das um 6 Uhr morgens. Sensationell!
Um 6.30 Uhr soll ein Fahrer in der Lobby auf mich warten, um mich zum Taj Mahl zu bringen. Die Strecke ist eigentlich nur 230 km lang, doch muss man Zeit einplanen. “Terafik Scham”, weis der verschmitzt grinsende Rezeptionist mit den dunklen Zähnen und meint damit den Stau auf Indiens Strassen. Die Dusche schenkt überraschend reichlich warmes Wasser und ich freue mich auf den Tag. Meine deutscher Pünktlichkeit steht samt Rucksack Punkt 6.30 Uhr in der Lobby, vom Fahrer fehlt jedoch jede Spur. Der Rezeptionist mit den dunklen Zähnen (wann schläft der eigentlich mal?) versucht die Situation nach 15 Minuten Wartezeit, telefonisch zu klären. Sein Gesichtsausdruck verrät, dass hier nicht alles nach Plan läuft, doch nachdem er aufgelegt hat, klärt er mich auf: “two minutes”… Klar! in zwei Minuten ist der Fahrer da, sicher… So wie sein Gesicht eben am Telefon aussah, wusste hier niemand von gar nichts. “Berekefas, Sir?” wollen seine Zähne wissen? “Oh no thanks, jetzt nicht mehr!” Ich hab das Frühstück hier gestern versucht und mich dabei spontan entschlossen, eine strenge Diät zu halten. Die Dinge schmeckten wie sie aussahen und das war nicht wirklich lecker dafür scharf.
Eine Stunde später sitze ich im Auto auf dem Weg zum Taj Mahal. Meinem Fahrer würde ich – so ich ihn irgendwo unbekannterweise träfe – freiwillig all mein Geld geben und ihn bitten, mich am Leben zu lassen. Es fällt mir schwer zu glauben, dass jemand auf dieser Welt noch vertrauens-unwürdiger aussehen könne als er. Sollte ich in einem indischen Bösewicht-Thriller einen Bösewicht besetzen müssen, hätte ich hier die unbestrittene Erstbesetzung. Eine dicke schwarze Jacke, passend zur schwarzen Hose und billige, braune Schuhe unterstreichen sein Gemüt und sind offenbar DIE Traumkombi bei 30 Grad Außentemperatur. Seine Lippen hält der Bösewicht geschürzt. Das hält er durch, seitdem ich ihn das erste mal sah. Bisher kam noch kein Wort von ihm. Noch nicht mal ein “Hello Sir”, keinen Namen… nichts… Mir gehen schauerliche Geschichten von entführten Touristen durch den Kopf und ich versuche es mit einem peinlichen “Nice Weather!” und weiss in diesem Moment, dass dies die absurdeste Bemerkung “ever” war. Hier siehst Du monatelang keine Wolke und das Wetter spielt für den Inder so gar keine Rolle. Die haben ganz andere Probleme.
Gottseidank hält sich meine Bemerkung mit seiner ebenso absurden Antwort die Waage: “Boreder – jupii – all keriminals!” weiss er und ich sinke mit einem “Aahhh ok!?” zurück in die Sitzbank.
Wir werden im Laufe des Tages einige solcher völlig sinnlosen und an Absurdität nicht zu übertreffenden “Unterhaltungen” haben und ich werde ein ums andere Mal, mein Grinsen verbergen müssen. Sein Englisch beschränkt sich auf ein paar Floskeln, deren Bedeutung er sich offenbar selbst nicht sicher ist und so ergeben sich herrliche Dialoge zwischen ihm und mir!
Als ich ihn frage, ob er mal kurz zum fotografieren anhalten könne, antwortete er freudig:
“Yes, yes! Photo, Photo!” Anhalten tat er allerdings nicht. Er kämpft sich mit geschürzten Lippen durch den indischen Verkehr und würdigte meine Bitte mit keinerlei anschliessender Handlung.
Immerhin weiss er mich mit seinem ewig wiederholenden Satz: “Boreder – jupii – all keriminals!” aufzuheitern. Auf die Frage, was das bedeutet folgt ein: “Kandagarhii, berekefas”, worauf ich am Ende wie immer ein “Ahh ok!” sage. So kommen wir aus und hätten das auch geklärt!
Seinen Fahrstil würde ich als “solvent, sportlich” bezeichnen, wobei ich das chaotische Treiben auf Indiens Strassen, eher als “Auto-Tetris”, denn als Verkehr bezeichnen würde. Wozu sich hier irgendwann jemand mal die Mühe gemacht hat, Spurmarkierungen aufzumalen, ist mir ein Rätsel. Aus 2 Spuren werden gern mal vier oder fünf und überholt wird rechts oder links – wie gerade Platz ist. Der Abstand zwischen den Fahrzeugen (ob Bus, Truck, Rikscha oder Kamel) überschreitet selten die 10 Zentimeter-Grenze und an roten Ampeln wird nur manchmal gehalten – so wie es gerade passt. Yeah! Indien ist Anarchie pur.
Die 5-stündige Fahrt zum Taj Mahal nutze ich, um mich gründlich zu “erden”. Was ich hier an Armut sehe, zerreißt mir das Herz. Kilometer um Kilometer laufen, schieben und kriechen tausende Inder durch Hitze und Dreck. Wie will man das hier je in den Griff kriegen? Stur auf “ignore” umzuschalten – so wie man es mir vor der Reise geraten hat – will mir schwer fallen. Einen Ansatz damit umzugehen, finde ich aber auch nicht.
Mein Bösewicht am Lenkrad hat vor eine Stunde begonnen, die Namen der Städte zu husten. In jeder Ortseinfahrt, findet ein neues Wort seine Lippen, bis irgendwann ein “Kandagarhii – Berekefas” darauf hin weisen soll, dass wir hier frühstücken werden. Ich beschränke mich auf einen Tee und fotografiere einen Inder, dem ich mit meinem Bakschisch wahrscheinlich über die nächsten 2 Tage rette.
Gegen 13 Uhr treffen wir in Agra ein – nun ist es nicht mehr weit zum Taj Mahal und irgendwann in der Ferne sehe ich diesen irrsinnigen Bau. Nach all der Armut und Trostlosigkeit solch einen Prunk zu sichten, ist für mich schon irgendwie skurril.
Ich bekomme einen “official Tourist Guide” an die Seite und darf neben all den – seit Stunden in der Hitze wartenden Indern – direkt zum Eingang durchlaufen. Ich schäme mich, doch in Anbetracht der mittlerweile 32 Grad und der voraussichtlich 3 Stunden Wartezeit zwischen all den Leuten, entschliesse ich mich, dass Schämen reichen muss. Am Security-Check bin ich wieder froh, den TouristGuide an meiner Seite zu haben, denn der bewaffnete Uniformierte am Eingang hat ein Riesenproblem mit meiner Großformatkamera – vor allem aber mit dem Drahtauslöser und den Grafmatic-Kassetten, die aussehen wie Minibomben von Sprengstoffgürteln. Ein Stativ bekommt keine Chance auf Einlass, doch wenigstens die Kamera und die Kassetten dürfen durch. Geschafft! Himmel und Menschen, dicht an dicht. Ich hole stoisch meine “Jackie” aus dem Rucksack und beginne meine Großformataufnahmen (an dieser Stelle erlaube ich mir ein Hohelied, auf den von Vanguard für meine Reise spendierten Rucksack Skyborne 45, der mir die 10 Kilo Kamerakonvolut auf dem Rück extrem angenehm macht. Ein ausgiebiger Testbericht folgt nach meiner Reise.)
Der Taj Mahal ist in etwa so, wie man ihn schon tausendmal auf Bildern gesehen hat. Eindrucksvoll, wunderschön und voll von irrsinnigen Details. Getreu des Fotografensprichwortes: “Es ist alles auf der Welt schon fotografiert worden, nur noch nicht von jedem!” fotografiere ich vor lauter Ehrfurcht die Standard-Motive. Jedes Abweichen vom Weg, wird mit Trillerpfeifen aus dem Mund Uniformierter geahndet. Nunja, ich hab Verständnis.
Nach einer Stunde ist der Zauber vorbei und wenn ihr mich fragt, ob sich die Reise zum Taj Mahal gelohnt hat, kann ich nur mit einem eindeutigen “Ja” antworten. Wenn man die Möglichkeit hat, sollte man sich dieses offiziell anerkannte Weltwunder ansehen. Gebaut aus Liebe und für die Ewigkeit geschaffen. Ein interessantes Detail, dass ich noch nicht wusste: Die 4 Minarette sind architektonisch nach aussen geneigt, damit sie im Falle eines Einsturzes das Hauptgebäude nicht beschädigen. Außerdem wird dadurch die optische “Verzeichnung” beim Betrachten des Taj Mahal etwas ausgeglichen… So clever war man vor 400 Jahren!
Mein Bösewicht entpuppt sich im Laufe des Tages als loyaler Beschützer und sicherer Hafen. Als ich ihm eine Packung Zigaretten spendiere, lächelt er das erste Mal und ihm entschwindet ein “Good Gereman (German)”. Puh! Alles richtig gemacht! Ich traue mich trotzdem nicht, ihn zu fotografieren.
Die Rückfahrt im Sonnenuntergang und der anbrechenden Dunkelheit ist eine Bildflut für die Kamera. Ich fotografiere – so wie ich es bereits während der Hinfahrt gemacht habe – aus dem Fenster. Wir fahren an Slums vorbei, die nur aus alten Tüten, Kuhfladen und Autoreifen bestehen und als es dunkel wird, offenbart das Licht der Scheinwerfer überfüllte Tuck-Tucks und allerlei anderes skurriles Gefährt. Ich mag Indien trotzdem oder gerade deshalb. Nachdenklich tauche ich mit der Kamera durchs offene Autofenster in die Szenerie ein und denke an meine Süßen daheim. Scheisse geht es uns gut! Wie oft vergessen wir das? Ich will mich ab heute nie wieder über irgendwas beschweren!
Während einer kurzen Pause sehe ich einen kleinen Jungen, der hinter einer verdreckten Hütte im Schlamm spielt. Ich gehe auf ihn zu und als er meine Kamera sieht, hält er neugierig-ängstlich inne und beobachtet mich. Also ich ihm das Foto von ihm auf dem Display zeige, freut er sich, als hätte er von mir ein tolles Spielzeug geschenkt bekommen. Ich hab den kleinen Mann mit einem Foto für ein paar Sekunden stolz und glücklich gemacht. Ich bin hin und her gerissen, ob ich ihm jetzt noch Geld geben soll oder ob es die Situation beschämt? Ich entscheide mich für einen – für indische Verhältnisse – stattlichen Betrag und dampfe ab…
Morgen geht es 4h mit dem Zug nach Chandigarh zur Hochzeit. Ich hab ein 1. Klasse Ticket mit Sitzplatzregistrierung. Nennt mich gern Weichei! Ich bin 41 und bereits mehrfach in meinem Leben mit beschissenen Zügen gefahren. Keine Erfahrung, die ich bräuchte. Vor allem nicht mit Foto-Equipment im Beutel, von der ein indisches Dorf eine Woche leben könnte.
Drückt mir die Daumen!
Bis bald
Euer Pirat.