Mein Arm ragt aus dem Fenster, mein Kopf lehnt auf ihm – Sonnencreme, getrockneter Schweiß. Weite. Schier unendlich weit erstreckt sich das immergrüne Land in den Norden: Palmenhaine, Lapachobäume, die aufgrund ihres begehrten Edelholzes fast ausgerottet sind, der Quebracho, wilde Zitrusfrüchte und der aus Madagaskar stammende Flamboyant – welch Kontrast zum sandigen, dürren Gran Chaco im Westen des Landes. Am Horizont flimmern bläuliche Hügel, Wolken türmen sich auf.
Weiden, die Inseln im grünen Meer. Pferde. Fette grasende Kühe. Neben mir hat ein Herr Platz genommen. Er trägt Jeans, ein weißes Hemd, Cowboyhut – und tiefe Falten. Er reicht mir seine Empanadas – ich lehne ab, ich bin satt. Er lebt auf einer Estancia, besucht aber heute seine Mutter. Er verdient sein Geld mit Mastrindern und Milchkühen. Die Empanadas sind mit Hühnchen und Gemüse gefüllt. Ich bin zu matt, um weiter zu sprechen, geschweige denn zu verstehen. Ich lehne mich wieder auf meinen Arm, schaue hinaus und merke nicht, dass ich in Schlaf falle.
Mit dem Gedanken ›es könnte etwas passieren‹ nach Südamerika zu reisen ist fatal, fast falsch. Man tut sich selbst einen Gefallen, wenn man anstelle des ›ob‹ oder ›falls überhaupt‹ ein ›wann‹ setzt. Es passiert immer irgendwem etwas. Früher oder später, und jeder steckt es anders weg, oder macht etwas anderes daraus. Alles, was hier passiert und passieren wird ist selbstverschuldet, natürlich. Niemand zwingt einen hier zu sein, und so manches Risiko geht allein davon aus, dass man an einem bestimmten Ort ist. Aber so gesehen ist auch jeder Schicksalsschlag im Leben selbstverschuldet. E.M. Corian sprach ›vom Nachteil geboren zu sein‹ … niemand zwingt einen … aber manchmal ist es sicherer schneller als alle anderen zu sein …
Eine dickliche Frau zwängt sich durch die Sitzreihen. Der Geruch von frisch Gebackenem strömt durch das Tuch, das die Chipas – eine paraguayische Backspezialität aus Maniokmehl, Eiern und geriebenem Käse – in ihrem Weidenkorb bedeckt. Ihre Schürze ist verfärbt. Schweiß perlt auf ihrem Gesicht. Beim Reden schwabbeln ihre Wangen. Zwischen den wulstigen Fingen ihrer freien Hand sind unzählige Scheine geklemmt.
Gemähtes Gras. Feuerrauch. Tränende Augen. Papa wirft Geäst ins Feuer. Er warnt mich, zu nahe zu kommen. Immer wieder. Das Feuer macht den Himmel ganz schmutzig. Also verziehe ich mich und laufe zwischen den Apfelbäumen zur Mauer, auf der ich häufig mit Marek sitze. Es ist dieselbe Mauer, auf der meine Mutter schon saß und auf ihre Mutter wartete. Das habe ich zwei Dekaden später erzählt bekommen. Für viele Jahre war diese Mauer und der Blick auf den Sonnenuntergang ein Bild, dass ähnliche Gefühle hervorrief, wie Caspar David Friedrich’s Gemälde bei schwermütigen Träumern. Ich und Marek saßen oft auf dieser Mauer, die zum Friedhof führte, sprachen über Mädchen, Spielzeuge und Mutproben, und schauten hinaus auf die goldenen wankenden Getreidefelder, aus denen jene Holzmasten ragten, an denen heute – verhedderten Drachen gleich – Erinnerungen hängen.
Kurz vor Encarnación beginnt es endlich zu regnen.