Markus Michalek

Ab sofort wird der Schriftsteller Markus Michalek einmal im Monat für die Pathologie schreiben. Hier sein literarischer Einstand …

Über die literarische Vernetzung – die Geschichte eines Fenstersturzes.

von Markus Michalek

Das verhält sich nämlich so: Spitzbergs Bild vom einsamen, „armen Poeten“ funktioniert nur in Maßen. In sehr begrenzten Maßen. Der Austausch war schon immer einer der wichtigsten Mechanismen in der „kreativen Szene“. Am Beispiel des Poeten, der in seiner Dachkammer sitzend, ein mögliches Jahrhundertwerk verfasst:

Schreiben, ja. Schreiben muss der Dichter allein. Aber vor dem Schreiben kommen die Tage, die Nächte, die Stunden und Minuten dessen, was gern als „Leben“ bezeichnet wird. Ich schrieb einmal: wenn ich schreibe, bin ich nackt. Zu diesem Zeitpunkt war ich das nicht, zu einem anderen schon, ich kannte das Gefühl, nackt zu sein und bin es jedes Mal wenn ich einen Text verfasse, der literarischen Ansprüchen genügen soll. Der Autor ist nicht tot in unserer Zeit, er existiert in jeder Zeile, die er verfasst. Jede Zeile eine Angriffstelle auf seine Existenz, aber auch eine Nahtstelle zu anderen Existenzen. Er lebt und muss sich vernetzen, um weiter zu wachsen. Schreibtische, Künstlerhäuser, writer in residence-Programme, Schreibwerkstätten, creative writing Studiengänge, literarische Blogs im Sprachraum des Internets, Lesungen, der Alltag und nicht zuletzt, der Text als konsumierbares Produkt dienen dem Austausch. Der Vernetzung.

Ein Mensch, der einen Text liest, ist einer, der weiß, ein Mensch, der einen Text schreibt, ist einer, der weiß. Menschen, die über einen Text sprechen, Menschen, die wissen. Alles Menschen, die spüren (können, sollten, lernen, dürfen, werden). Ich denke gern an eine Episode im Herbst zurück. Im Gespräch mit einem anderen Menschen: Französische Tageszeitungen brachten eine Meldung über ein Kleinkind, das aus einem Fenster gefallen war, durch eine Markise krachte, der Stoff zerriss, er muss wohl mit einem grässlichen Geräusch zerrissen sein. Ein endgültiges Geräusch, ein Geräusch, das vom Ende erzählt; denn unter der Markise gelegen, wartete ein Cafe, Tische, Stühle, Gäste, Bedienungen, Passanten und der Asphalt des Bürgersteigs. Der Aufprall hätte den jungen Menschenkörper zermalmt – soviel scheint sicher. Der Junge hatte Glück, er fiel aus dem Fenster, krachte auf die Markise, die mit einem grässlichen Geräusch riss, den Körper freigab und dieser Körper landete in den Armen eines Menschen. Dieser Mensch war von Beruf Arzt. Was für ein Glück!

Ich habe gelacht und gleichzeitig eine große Rührung in mir verspürt. Nicht die Freude aber, oder die Rührung war es, die mich im selben Moment irritiert hat. Sondern der Satz, der unvermittelt in meinem Kopf aufgetauchte.

„Später wird sich niemand mehr daran erinnern, warum Antoine eigentlich aus dem Fenster gefallen war.“

Ich habe mittlerweile drei Fassungen von Antoines Fenstersturz geschrieben, nicht ein einziges Mal aber einen Zeitungsartikel zum tatsächlich passierten Fenstersturz gelesen. Das ist nicht wichtig für mich. Die Vernetzung von zwei Menschen, im Dialog, die Vernetzung von Realität und Fiktion, die Vernetzung von verschiedenen Handlungssträngen, die Vernetzung von Figuren und dem Nachhall von Sprache, das sind wichtige Dinge in meinem Leben. Was weiß ich, was jener Mensch, der mir von diesem Vorfall berichtet hat, nach unserem Gespräch getan hat? Was weiß jener Mensch, was ich danach getan habe? Was wird aus dem Jungen werden, den ich Antoine genannt habe? Sein Schicksal ist ungewiss; einerseits, weil es noch keine endgültige Geschichte gibt, die ich erzählen will. Andererseits, weil ich den Menschen, der die Folie zu einer Figur namens Antoine gebildet hat, nicht einmal kenne. Ich weiß nicht, was mit diesem Text passieren wird.

Stellen Sie sich vor: Antoine landet in den Armen einer Bedienung, die das Kind den karrierebewussten, dank des Unfalls sehr erschrockenen Eltern zurückgibt und daraufhin kurzerhand als die perfekte Gouvernante engagiert wird, bis es zu einer Katastrophe kommt, da die Vorstellungen der Gouvernante nicht mit denen der karrierebewussten, längst nicht mehr erschrockenen Eltern übereinstimmen. Oder stellen Sie sich vor, Antoine erfährt erst viel später davon, was für ein verdammtes Glück er als Kleinkind einmal hatte und macht sich auf die Suche nach dem Menschen, der sein Leben gerettet hat. Vielleicht aber hat Antoine auch einfach nur immer Pech in seinem Leben, vielleicht war der glücklichste Moment der, als die Markise riss, ein Mensch instinktiv seine Arme nach dem fallenden Bündel ausstreckte und damit ein Menschenschicksal neu gestrickt wurde. Das ist es ja, was unser Leben ausmacht. Unser Streben, der Zufall, wenn es ihn den gibt und unser Wille, oft die Angst, einem übergeordneten Schicksal Untertan zu sein. Fatalité vs. Volupté. Die Hybris des Individuums, das sich am Schicksal reibt und die nachfolgende Katharsis. Wie, wenn nicht vernetzt mit anderen Individuen ließe sich das aushalten?

Wer einmal getrauert hat, weiß, dass man in der Trauer immer allein ist und nie. Wer einmal wirkliche Freude empfunden hat, weiß, dass man in der Freude immer allein ist und nie. Wer einmal eine Zeile geschrieben hat, weiß, dass man damit allein ist und nie. Die Wirklichkeit der anderen Menschen ragt immer über den Seitenrand herein. Wir sind keine pathologischen Einzelgänger, wir sind Herdentiere, Schriftsteller sind Herdentiere, auch sie, vielleicht sogar gerade sie brauchen den Austausch so dringend wie andere Existenzen ihre natürliche Umgebung.

Aber was ist mit den Eremiten, was mit den schweigenden? Ich weiß es nicht. Ich kann es mir nur vorstellen. Hineinsehen in einen Menschen kann ich nicht. Es ist ein Freitagabend, ja, ein Freitagabend. Ich habe eine Flasche Rotwein geöffnet, aber noch keinen Schluck von meinem Glas genommen, es steht unberührt auf dem Tisch und wartet. Ich denke an einen Eremiten, wie ich ihn mir vorstelle. Ein Mann, (Männer scheinen für ein derartiges Da-Sein anfälliger zu sein) der keinen Kontakt zur Außenwelt hat. Im selben Moment, indem ich das denke, weiß ich bereits, dass dieser Gedanke falsch ist. Ein Mann, der keinen Kontakt zur Außenwelt hat, ist nicht zwangsläufig auch ein Eremit. Wer behauptet denn, dass der Eremit seine Außenwelt nicht wahrnimmt? Dass er nicht reflektiert, was sich um ihn herum befindet? Dass er nicht in der Lage ist, ein Gefühl zu empfinden, das von außen bedingt, sich im Inneren äußert? Ich kann das nicht behaupten. Meine Vorstellung des Eremiten, die ich an einem Freitagabend habe, ist falsch. Ich lehne mich zurück. Schließe die Augen. Setze mich an die Arbeit. Verändere das Gesicht des Eremiten. Verwische die Falten um die Augen, stutze ihm den weißen Bart. Wechsele seine Augenfarbe und lasse aus dem verhutzelten Torso einen kräftigen, aber nicht allzu außergewöhnlich schön anzusehenden Männerkörper entstehen. Dieser Eremit lebt nicht irgendwo auf dem Land, auf einer Hügelkuppe hinter einem Ginsterbusch oder einer Bergspitze in einer kleinen Klause. Diesen Eremiten stelle ich in die Stadt hinein, mitten ins Zentrum. In den Hinterhof eines Hauses, sodass der alltägliche Lärm der Straße hier nur gedämpft wahrnehmbar ist. Die Sonne fällt nur zu bestimmten Tageszeiten auf bestimmte Flecken in diesem Hinterhof. Ich gebe diesem Mann einen Beruf, ein Handwerk vielleicht, eines, das selten geworden sein mag, aber den Lebensunterhalt sichert. Er soll ein Sattler sein, denn das ist einer der ersten Berufe, die mir einfallen und ein Gedanke, der mir gefällt, ein Gedanke, der Raum lässt. Kennen Sie die Arbeit eines Sattlers, auch in unserer Zeit? Es gibt sie noch. Er soll eine kleine Werkstatt besitzen, die allerdings in einem anderen Hinterhof liegt, Distanzen müssen überbrückt werden. Er soll in dieser Werkstatt arbeiten, denken, fühlen und vor allem, nicht einsam sein. Er soll mit den Menschen kommunizieren, die ihre kaputten Ledersachen gern repariert haben möchten. Er soll an einem besonderen Stück arbeiten, vielleicht seinem Lebenswerk. Aber er soll auch nicht übermäßig mit sozialen Kontakten beglückt sein, er ist schließlich ein Eremit. Ich werde ihm einen Freund geben, vielleicht auch zwei. Eine Liebesgeschichte, die weder glücklich noch unglücklich endete, weil sie vielleicht gerade erst beginnt. Einen Todesfall, aber keinen zu nahegehenden; nur, die Liebe und der Tod sind die beiden bewegenden Eckpfeiler unseres Lebens.

Und, als ich aufhöre, zu schreiben, stelle ich fest, dass dieser Eremit kein Eremit mehr ist. Er ist vielmehr ein Mensch wie Sie und ich. Manches hat er mehr, manches hat er weniger. Aber jetzt kenne ich diesen Eremiten, bin eine Verbindung zu ihm eingegangen, spüre seine Existenz, habe mich mit ihm vernetzt. Ich werde ihn Antoine nennen, alles andere erdenkt sich, ergibt sich. Aber der erste Satz seiner Existenz lautet immer noch:
„Später wird sich niemand mehr daran erinnern, warum Antoine eigentlich aus dem Fenster gefallen ist.“



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