Maria, der Maschinist und die Priester

Maria, der Maschinist und die Priester

„Sie möchten ein Zimmer?“ Die kleine Frau in der grauen Uniform schien aus dem Nichts zu kommen.

„…Ja, für eine Nacht…vielleicht auch für zwei…je nach dem…“

Sie nickte verständnisvoll.

„Im zweiten Stock ist ein Zimmer frei. Nummer 214.“

„Ja, natürlich, vielen Dank.“ Sie reichte mir den Schlüssel.

„Gleich gegenüber ist der Aufzug. Eine gute Nacht, Herr Berger.“

Berger? Ich hieß doch nicht Berger! Und überhaupt: musste ich denn kein Formular ausfüllen? Nirgendwo unterschreiben? Ich wunderte mich, dass die Frau nicht einmal einen Abzug meiner Kreditkarte verlangte. Dann betrat ich den Aufzug, er setzte sich von selbst in Bewegung.

Das Zimmer sah so aus wie die Lobby des Hotels, die Decke des Betts war schmuddelig, die Tapete an den Wänden war zerlöchert und eingerissen. Einen Fernseher oder gar eine Minibar konnte ich nirgends entdecken. Dafür stand ein Telefon auf dem alten Nachttischmöbel. Ich griff zum Hörer. Maria war sicher zu Hause. Maria war meine Frau. Heute morgen hatte ich mich im Streit von ihr getrennt. Sie wolle mich nie mehr sehen, hatte sie gesagt.

Vielleicht würde sie mit mir sprechen und ich konnte ihr alles erklären und wir würden uns versöhnen. Als ich fertig gewählt hatte, ertönte sofort das Rufzeichen. Ich versuchte mir das Gesicht von Maria ins Gedächtnis zu rufen. Aber ich konnte mich nicht an sie erinnern.

„Maria?“, rief ich ins Telefon, als am anderen Ende abgenommen wurde, „bitte leg nicht auf, ich bin es.“ Dabei weißt du selbst nicht wer du bist, flüsterten meine Gedanken.

„Nein, ich bin es“, antwortete eine sonore Männerstimme. Die Stimme meines Vaters! Mir lief es kalt den Rücken herunter. Das war unmöglich! Mein Vater war doch tot!

„Vater, du bist tot, lass mich in Ruhe!“, rief ich.

Ein heftiges Schnaufen ertönte aus dem Hörer.

„Du hast uns alle im Stich gelassen. Maria, die Kinder und mich. Anstatt dich um deine Familie zu kümmern, hast du dich in deine Träume geflüchtet.“

„Das ist nicht war, verdammt noch mal. Das weißt du doch. Es war der Unfall. Ich habe mein Leben lang nicht geträumt, bis zu dem Unfall.“ Die Worte sprudelten von selbst aus mir heraus. An einen Unfall konnte ich mich nicht mehr erinnern.

„Du warst schon immer ein Träumer, doch du wolltest nichts davon wissen, du hast deine Träume verdrängt. Nun hast du uns alle ins Unglück gestürzt.“

Mir schwirrte der Kopf. War mein Vater etwa nicht tot? Hatte ich das nur geträumt? Träumte ich jetzt? Wo war Maria mit den Kindern? Und wer war Maria?  Warum hatte ich Kinder mit ihr? Ohne zu antworten legte ich den Hörer auf und ließ mich auf das Bett fallen. Die Zimmerdecke wirkte bedrohlich nahe und die Wände krochen näher, wenn ich kurz die Augen schloss. Hier konnte ich nicht bleiben, ich musste raus. Lieber wollte ich im Park auf einer Bank übernachten. Da draußen war doch ein Park, oder nicht?

Ich wollte meine Beine über den Bettrand schwingen, doch wie gelähmt blieb ich liegen. Kein Muskel ließ sich bewegen. Mein Körper gehorchte mir nicht. Entsetzt starrte ich auf die näherkommenden Wände und die Decke. Ein Film, ein Scherz, versteckte Kamera, flüsterten meine Gedanken fragend.

Das hier war kein gewöhnliches Hotel, ich hätte es wissen müssen. Die Frau in ihrer komischen Uniform am Empfang, die bereits meinen Namen wusste, auch wenn es der falsche war, die vergammelte Lobby, der Aufzug, der von selbst fuhr. „Stopp“, rief ich. „Es ist bloß ein Traum.“ Doch es half nichts.

Als die Wände mein Bett erreichten und die Decke die Lampe auf dem Nachttisch berührte, öffnete sich die Tür des Schranks in der linken Ecke. Ein kleiner Mann trat heraus, er hatte eine Glatze und einen Vollbart, trug ein bunt kariertes Hemd und blaue Plüschhosen. Seine nackten Füße steckten in Filzpantoffeln.

Ein Clown? Hatte er sich die ganze Zeit im Schrank versteckt? „Du bist verrückt“, murmelte ich zu mir selbst und schloss die Augen. Vielleicht würde der ganze Spuk von selbst verschwinden.

„Ich bin der Maschinist“, sagte der Kleine.

Ich riss die Augen auf und starrte meinen Besucher an. Decke und Wände waren zum Stillstand gekommen, stellte ich erleichtert fest.

„Dann bist du für die Deformation meines Zimmers verantwortlich?“

Er grinste frech.

„Ja, ich wollte dir einen Schrecken einjagen. Du bist ziemlich ängstlich, weißt du.

Ich fand das gar nicht lustig. Nicht nur den Scherz mit dem Zimmer, das mich zerquetschen wollte, sondern auch seine invasive, freche Art. Ebenso die Sache mit Maria, ihren Kindern und dem Vater.

„Und? Wie geht es jetzt weiter, nachdem du mich erschreckt hast? Was willst du von mir? Ich möchte raus aus diesem Traum. Es ist nicht meiner. Er gehört einem Berger, der sich mit seiner Maria verkracht hat und deswegen im Hotel übernachten muss.“

„Doch, dies ist dein Traum. Was kann ich dafür, wenn du ein komisches Hotel träumst und dich Berger nennst.“ Seine grünen Augen blitzten und er kicherte.

Das Zimmer hatte sich in der Zwischenzeit wieder „normalisiert“, Wände und Decke waren wieder dort, wo sie sein sollten. Gab es denn keine Möglichkeit aufzuwachen? Hatte ich mich derart in meine Traumwelten verstrickt, dass ich sogar fremde Träume träumte?

„Benutze deinen Geist, es ist das Einzige auf das du dich verlassen kannst.“

Ich musste unwillkürlich lachen. Gerade mein Geist hatte mir bisher die tollsten Streiche gespielt. Einen unzuverlässigeren Kumpanen konnte ich mir nicht vorstellen.

„Eben nicht, es ist gerade mein Geist, der dieses Traumlabyrinth konstruiert hat, aus dem ich keinen Ausweg finde und das so seltsame Gestalten wie dich beherbergt.“

Die Augen des Kleinen glänzten. Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln.

Eine große Müdigkeit überkam mich und ich schlief augenblicklich ein.

„Ich kann doch im Traum nicht einschlafen“, war mein letzter Gedanke, bevor mich die Müdigkeit fort trug.

Als ich aufwachte, stand ich am Ufer des Flusses. „Aufwachen“ ist natürlich der falsche Ausdruck. Die wohlbekannte Flussszene machte mir bewusst, dass ich immer noch träumte. Gerade noch, so schien es mir, war ich in dem seltsamen Hotel eingeschlafen und jetzt stand ich wieder hier in meinem Lieblingstraum. Die Müdigkeit war wie weggewischt, ich war hellwach.

Doch wo war der Gesichtslose? Ich konnte ihn nirgends entdecken und schlenderte unentschlossen auf dem Uferweg flussaufwärts. Niemand war auf dem Fluss unterwegs, keine Schwimmer, keine Flösse, und das andere Ufer war im Dunst, der über dem Wasser hing, kaum zu erkennen. Nur zwei Kraniche flogen im Zickzack übers Wasser und philosophierten laut über den besten Fisch. Ich musste lachen. Schön, dass mein Flusstraum eine Prise Humor behalten hatte.

„Du scheinst dich zu amüsieren?“ Der kleine Maschinist, der wie ein Clown aussah, saß am Ufer und ließ seine Füße ins Wasser baumeln. Die Filzpantoffeln lagen neben ihm im Gras. Ich war überzeugt, dass er vor einem Augenblick noch nicht dagewesen war. Doch so waren Träume: Man sehnte sich nach Gesellschaft und wusch war sie da.

„Ja, es ist immer wieder interessant zu sehen und zu hören, was mein Unterbewusstsein hervorbringt.“

Der Kleine verzog das Gesicht und malte mit den Füßen Kreise ins Wasser.

„Im Gegensatz zu dem lausigen Hotel ist dieser Fluss nicht dein Traum. Dein Unterbewusstsein hat also gar nichts mit dem zu tun, was hier geschieht, du bist hier nur zu Gast.“

„Das kannst du mir nicht weismachen. Im Gegenteil, dies hier ist mein Traum, das Hotel war Bergers Traum. Ich war schon viel zu oft hier und die Tatsache, dass du vom Hoteltraum in den Flusstraum gewechselt bist, zeigt mir, dass du eine Traumgestalt bist. Wenn ich aufhöre zu träumen, endet auch deine Existenz.“

„Dann versuch es doch!“ Der Kleine reckte mir herausfordernd sein Kinn entgegen.

Ich schluckte leer. Zurzeit war es für mich unmöglich aufzuwachen. Ich war in meinen Träumen gefangen und irrte vom einen zum anderen.

„Hallo ihr beiden?“ Der Gesichtslose tauchte aus dem Nichts auf und setzte sich wie selbstverständlich neben den kleinen Maschinisten. Jetzt fehlt nur noch Maria, dachte ich in einem Anflug von Galgenhumor.

„Maria werden wir später wieder einholen. Sie ist vorausgegangen“, meinte der Gesichtslose. Der Kleine kicherte.

„Eine richtige Traumfrau“, ergänzte der Gesichtslose.

Ich setzte mich neben die Beiden ans Ufer. Was sollte ich sonst tun. Die Kontrolle über meine Träume war mir entglitten. Und schon wieder überkam mich eine unwiderstehliche Müdigkeit.

Ich musste eingenickt sein, in der Zwischenzeit war es dunkel geworden. Der Gesichtslose und der Kleine saßen immer noch neben mir. Sie unterhielten sich leise in einer mir unbekannten Sprache. Draußen auf dem Fluss tanzten die Irrlichter durch die Nebelschwaden. Der Fluss gurgelte und plätscherte und in der Ferne waren ein paar Frösche zu hören. Da ertönte plötzlich ein fürchterliches Gebrüll. Ich zuckte zusammen.

„Keine Sorge, es ist bloß der Mitternachtspriester. Er treibt um diese Zeit immer vorbei“, beruhigte mich der Gesichtslose.

Der Priester brüllte sich die Seele aus dem Leib, doch kein einziges Irrlicht nahm von ihm Notiz, geschweige denn einer der anderen Schwimmer, die mit ihm zusammen aufgetaucht waren.

„Ist er jede Nacht so laut?“, wollte ich wissen.

„Ja, und er ist nicht der einzige. Gestern lief kurz nach ihm ein grüner Missionar übers Wasser und brabbelte ununterbrochen vom Wandel der Gezeiten.“

„Das ist normal“, meinte der kleine Maschinist, „das Leben auf dem Fluss wandelt sich beständig, jeder Tag bringt neue Strömungen und Wirbel hervor und wir sehen nie das gleiche Ufer.“

„Doch der Fluss bleibt immer der Gleiche.“ Der Gesichtslose hustete. Manchmal ist er ein wenig wilder oder er erscheint uns dunkler und bedrohlicher. Doch schon ein paar Wochen später ist er wieder lieblich und friedlich.“

„Aber das Ufer wandelt sich nie“, warf ich ein.

„Das ist bloß Illusion, es gibt kein Ufer, der Fluss des Lebens ist so breit wie er lang ist: unendlich.“

„Das kann nicht sein“, protestierte ich, „die Breite ist doch gleichbedeutend mit den schmalen Grenzen, zwischen denen sich unser Leben bewegt.“

Der Gesichtslose steckte sich drei Zigaretten gleichzeitig in den nicht vorhandenen Mund und machte mit Zeigefinger und Daumen Feuer. Doch die Zigaretten entpuppten sich als Silvesterknaller und er spuckte sie ins Wasser, bevor sie explodierten. Es machte dreimal ‘Blubb’ und dann tauchte an der gleichen Stelle unvermittelt ein brauner Priester auf. Er schwamm direkt auf uns zu.

„Halt“, rief er. „Hört mir zu. Es gibt nur einen Gott und der ist braun.“

„Blödmann“, entgegnete der Gesichtslose und hieb dem Priester mit einem Stück Treibholz auf den Kopf, dass die Irrlichter zuckten.

„Wieso tust du das?“, fragte ich und sah entsetzt wie der Braune wieder im dunklen Wasser verschwand.

„Wenn jemand versucht, einen anderen von seinem Glauben zu überzeugen, dann versucht er nur sich selbst zu überzeugen.“ Der Gesichtslose hustete wie ein kranker Motor.

„Aber keine Sorge, er wird wieder auftauchen. Vielleicht in einer anderen Farbe und vielleicht ist sein Gott dann rot.“

Der Kleine kicherte.

Ich mag keine Priester. Euer Traumperlentaucher

Bild von JoJo



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