Warum muss sich die dreizehnjährige Imma in der Wohnung einer Frau verstecken, die sie nicht kennt, die sie Tante nennen soll, obwohl sie eigentlich nicht zur Familie gehört? Weit weg von ihrer richtigen Familie im Norden Italiens lebt Imma wie eine Gefangene, darf nicht auf die Straße, darf sich nicht am Fenster sehen lassen. Sie schwebt in Lebensgefahr, aber warum bloß? Was hat sie getan, dass sie das alles auf sich nehmen muss?
Imma wünscht sich Freiheit, mehr als alles andere. Und so beschließt sie, ein hohes Risiko einzugehen und sich tagsüber aus der Wohnung zu schleichen. Auf ihren Streifzügen durch die Stadt begegnet sie Paolo, dem Buchhändler, dessen Bücher Imma eine neue Welt eröffnen und sie wieder träumen lassen – von der Welt hinter den Fenstern, von der Heimat, vom Duft von Erde und Zitronen. Die Bücher geben ihr Trost, ihr Schicksal zu ertragen.
Doch was genau ist Immas Schicksal? In Rückblenden, die sich mit Immas Erzählungen aus ihrer Perspektive abwechseln, kommt langsam die Wahrheit ans Licht. Es geht um ein Verbrechen, um Familienzusammenhalt und Schuld. Imma hat Dinge gesehen, die sie nicht hätte sehen dürfen. Dinge getan, die sie besser nicht getan hätte. Ihr Gefängnis ist ihr einziger Schutz, ihre einzige Chance zu überleben. Doch kann sie ihrer Vergangenheit wirklich entkommen?
Margherita Oggero ist ein sehr einfühlsamer Roman gelungen, besonders die Erzählung aus Immas Perspektive ist sehr authentisch gelungen und lässt direkt in den Kopf der Dreizehnjährigen blicken. Imma ist nicht alleine – ich bin bei ihr. Ich halte ihre Hand, wenn die Sehnsucht nach Freiheit, Heimat und Familie zu groß wird. Aber ich schaue auch zu, wenn Imma zu ihren verbotenen Streifzügen aufbricht, wenn sie in Büchern eine neue Welt sucht und wenn sie und Tante Rosaria sich letztendlich einander annähern. Weil sie merken, dass jede für sich eine Gefangene ist.
Gleichzeitig ist Der Duft von Erde und Zitronen eine Familiengeschichte, eine typisch italienische Familiengeschichte, die den Weg mehrerer Generationen nachzeichnet und damit erst den Weg ebnet für Imma und ihre Geschichte. Dabei wird so spannend erzählt, dass der Roman fast schon an einen Krimi erinnert und mir das Aufhören unmöglich gemacht wird.
Die Mischung aus einfühlsamer Ich-Erzählung und spannendem Familienkrimi macht Oggeros Roman in meinen Augen besonders. So besonders wie den Duft von Erde und Zitronen.
Gebundene Ausgabe: 320 Seiten, erschienen bei DAV, Mai 2012. Aus dem Italienischen von Peter Klöss, Originaltitel: L’ora di pietra
ISBN: 978-3421045539