"Mama, wo warst du denn da auf dem Foto?"

Meine lieben Kinder,
ich möchte dringend etwas prophylaktisch klarstellen, falls ihr mich später mal fragt, ob ich denn gar nichts mit euch unternommen habe, weil ich nur auf wenigen Fotos mit euch zu sehen bin. Vielleicht denkt ihr ja, ich saß immer zuhause oder beim Friseur oder war shoppen oder so, wenn ihr eure tollen Ausflüge mit dem Papa gemacht habt. Auch wenn uns Freunde besuchten, hab ich mich immer vom Acker gemacht, den Fotos nach zu urteilen. Und in den Urlaub schickte ich euch natürlich allein mit dem Papa, damit ich mal meine Ruhe habe. Sieht man doch auf den Fotos, ist doch immer nur der Papa dabei. Und ihr natürlich.
Bei euren Geburtstagen war ich auch selten zugegen, genauso wie bei anderen Festen oder besonderen Anlässen. Selbst an meinem eigenen Geburtstag habe ich anscheinend lieber das Weite gesucht und ihr habt schön mit dem Papa und den Großeltern gefeiert. Es gibt kein Foto von mir. Den Kinderwagen geschoben habe ich nur wenige Male, das Tragetuch kam vielleicht drei Mal zum Einsatz und gekuschelt haben wir auch selten, den Fotos nach zu urteilen. Lediglich im Planschbecken war ich immer dabei, weil das dem Papa zu kalt war. Ansonsten machte ich mich in eurer Kindheit extrem rar, den Fotos nach zu urteilen.
Bildquelle: Pixabay
Fotos konservieren Erinnerungen und wecken Erinnerungen später wieder. Sie halten Augenblicke fest und lassen gemeinsame Erlebnisse aufleben. Sie sind Stützen des Gedächtnisses und zeigen den nachfolgenden Generationen das Leben der Altvorderen. Ich liebe es, Fotos anzuschauen und mein Leben quasi nochmal zu erleben. Mir kommen dabei nicht nur die Erlebnisse ins Gedächtnis zurück, sondern auch meine Gedanken und Gefühle und sogar Düfte, Geschmäcker und Stimmungen. Auch erinnere ich mich an die Personen, die auf den Fotos sind, und mir fallen weitere Episoden, Eigenarten und Gemeinsamkeiten ein. Oft habe ich mich als Kind gefragt, warum mein Vater so selten auf unseren Fotos zu sehen ist. Tja: er hat fotografiert!
In den meisten Familien gibt es einen Elternteil, der gern und viel fotografiert, sei es aus einer Fotoleidenschaft heraus oder für die Erinnerung. Und einen anderen, der demzufolge meist auf den Fotos zu sehen ist, dem das aber gar nichts bedeutet. In meiner Herkunftsfamilie war mein Vater der fotografierende Teil, in meiner eigenen Familie bin ich das. Nun bin ich genauso wenig auf Fotos zu sehen wie er früher. Und meine Kinder werden sich vielleicht später auch fragen, ob ich denn überhaupt dabei gewesen bin, bei all unseren tollen Unternehmungen, Urlauben und Anlässen. Schließlich sehen sie nicht, wie ich mit ihnen am Strand buddele, im Wald Verstecken spiele, Fahrrad fahre, am Geburtstag Kerzen auspuste, sie im Arm halte und mit ihnen lache. Es gibt Fotos von mir, ja, aber es sind im Verhältnis zu der Zeit, die ich mit den Kindern verbringe, sehr wenige.
Dereinst, wenn sie diese Fotos betrachten, werden sie meine Stimme nicht hören, meinen Geruch nicht riechen, sich nicht erinnern, ob ich zum Anlass eines bestimmten Fotos fröhlich, traurig oder wütend war, sie werden nicht wissen, ob ich dabei war oder gerade allein meiner Wege zog. Sie werden sich selbst kaum zusammen mit ihrer Mama auf Fotos sehen, mit dem Menschen, der viele viele Kindheitsstunden mit ihnen verbracht hat. Sie werden sich weniger an gemeinsame Erlebnisse mit mir erinnern, sondern immer eher an den Papa, der mit ihnen auf unseren Fotos zu sehen ist. Und ja, das macht mich traurig.
Ich könnte darum bitten, mehr fotografiert zu werden. Das habe ich getan, es hat grundsätzlich nichts geändert. Denn wem die eigenen Erinnerungen nicht wichtig sind, der wird auch nicht für die Erinnerungen anderer Menschen sorgen. Selfies und Selbstauslöser-Fotos schaffen auch nicht wirklich Abhilfe, schließlich sind es bewusste Fotos, keine Momentaufnahmen. Meine Hoffnung liegt in den Kindern: vor allem die Kleine fotografiert sehr gern und wird deshalb wohl recht bald eine eigene Kinderkamera bekommen. Und spätestens wenn das erste Handy vorhanden ist, wird sich zeigen, welches Kind am Sammeln von Erinnerungen interessiert ist.
Unsere Erinnerungen sind in unserem Kopf? Ehrlich gesagt habe ich aus meinen ersten Lebensjahren so gut wie gar keine Erinnerungen und hätte ohne Fotos keinerlei Vorstellung, wie das gewesen ist. Danach kommt eine Zeit, an die viele Erinnerungen vorhanden sind, weil alles sehr intensiv erlebt wurde. Spätestens ab den 30ern aber ist der Kopf so voll und immer neue Dinge müssen verarbeitet und gespeichert werden, dass das Gehirn einfach überlastet ist und kaum noch neue Details aufnehmen kann. Dafür braucht man dann Hilfsmittel, wie z.B. Fotos. Selbst ich, die ich eigentlich seit jeher ein gutes Gedächtnis habe, kann die Flut von Informationen und Ereignissen einfach nicht mehr bewältigen. Hätte ich nicht Unmengen an Fotos (und den Blog), hätte ich viele Situationen mit den Kindern längst wieder vergessen, obwohl sie nicht lange zurückliegen.
Also, meine lieben Kinder, lasst mich euch sagen: ich war dabei, ich war mit euch zusammen, ich habe viel Zeit mit euch verbracht und viele schöne (und auch weniger schöne) Dinge mit euch erlebt. Lasst euch von den Fotos nicht täuschen, auf denen ihr mich nicht seht. Ich stand direkt vor euch und habe euch angelacht. Oder euch unbemerkt fotografiert. Ich konserviere eure Kindheit für euch und werde dies auch weiter tun. Sie wirkt wie eine Kindheit fast ohne Mama, aber das war nicht der Fall! Ich war da, bei euch! Vergesst mich bitte nicht!

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