Der Brief und das Tagebuch sind seit jeher im Kreise eifriger Denker beliebte Mittel des Ausdrucks, der Lebensbewältigung. Erfahrungen, Ideen, Gedanken und Ahnungen – von der grossen Frage nach dem Sinn des Lebens bis zur Trivialität eines Milcheinkaufs – werden verarbeitet. Unzählige Schriftsteller, Philosophen, Politiker, Verleger, Psychologen usw. usf. haben der Menschheit eine Fülle privater Aufzeichnungen hinterlassen – die oftmals sorgfältig ediert, aufwendig entschlüsselt, aber wenig gelesen werden. Im Rahmen der Beitragsserie “Lebens-Lagen” widmen wir uns Tag für Tag diesen Noten aus den Leben der Briefeschreiber und Tagebucheinträger. Kalendertage der Veröffentlichung und des präsentierten Textbeispiels stimmen dabei jeweils überein. Wir wünschen viel Vergnügen!
Am 16. März 1936 schreibt die französische Philosophin Simone Weil (1909 – 1943), die damals als sozialistische Syndikalistin in einer Fabrik arbeitete, aus Bourges an einen Ingenieur-Betriebsleiter:
“Sehr geehrter Herr,
ich muss mich bei Ihnen dafür entschuldigen, dass ich Sie mit Briefen überhäufe: sicher finden Sie mich, so befürchte ich, immer unerträglicher. Aber Ihre Fabrik setzt mir zu, und ich möchte mit dieser Beschäftigung fertigwerden. (…)
Von ganzem Herzen wünsche ich eine möglichst radikale Umwandlung des gegenwärtigen Regimes im Sinne grösserer Gleichheit des Kräfteverhältnisses. Ich glaube ganz und gar nicht, dass das, was man heutzutage Revolution nennt, dahin führen kann. Die Arbeiter von R. müssten nach einer sogenannten Arbeiterrevolution genauso passiv gehorchen wie zuvor, so lange die Produktion auf passivem Gehorsam gegründet ist. (…)
Bei der Zurückweisung meines Artikels warfen Sie mir vor, zu Klassenbewusstsein aufzureizen im Gegensatz zu dem Partnerschaftsgeist, den Sie in der Gemeinschaft von R. anerkannt wissen wollen. Unter Klassenbewusstsein verstehen Sie wahrscheinlich Revoltegeist. Seien wir uns darüber im klaren: wenn die Opfer der sozialen Unterdrückung sich tatsächlich erheben, gehören ihnen alle meine Sympathien, freilich ohne Hoffnung; erringt eine Revolte einen partiellen Erfolg, dann freue ich mich. Dennoch möchte ich keineswegs den Revoltegeist befördern, und zwar weniger im Interesse der Ordnung als im moralischen Interesse der Unterdrückten. Nur zu gut kenne ich diese Tatsache: Erhebt man sich in den Ketten einer unbarmherzigen Notwendigkeit nur einen Augenblick, dann sinkt man kurz darauf wieder auf die Knie. Das Ertragen unvermeidlicher physischer und moralischer Leiden – gerade in dem Masse, wie sie unvermeidlich sind – ist das einzige Mittel, um seine Würde zu bewahren. Aber Ertragen und Unterwerfen sind zweierlei.
Der Geist, den ich zu wecken wünsche, ist der Kooperationsgeist. (…)”
Aus: Simone Weil Fabriktagebuch und andere Schriften zum Industriesystem.Aus dem Französischen v. Heinz Abosch. Suhrkamp 1978.