Lebens-Lagen #10: 15. März

Der Brief und das Tagebuch sind seit jeher im Kreise eifriger Denker beliebte Mittel des Ausdrucks, der Lebensbewältigung. Erfahrungen, Ideen, Gedanken und Ahnungen – von der grossen Frage nach dem Sinn des Lebens bis zur Trivialität eines Milcheinkaufs – werden verarbeitet. Unzählige Schriftsteller, Philosophen, Politiker, Verleger, Psychologen usw. usf. haben der Menschheit eine Fülle privater Aufzeichnungen hinterlassen – die oftmals sorgfältig ediert, aufwendig entschlüsselt, aber wenig gelesen werden. Im Rahmen der Beitragsserie “Lebens-Lagen” widmen wir uns Tag für Tag diesen Noten aus den Leben der Briefeschreiber und Tagebucheinträger. Kalendertage der Veröffentlichung und des präsentierten Textbeispiels stimmen dabei jeweils überein. Wir wünschen viel Vergnügen!

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Am 15. März 1891 schreibt Hermann Hesse (1877 – 1962) aus Göppingen an seine Eltern:

“Liebe Eltern!
Dank für Euren Brief. Was die Vakanz betrifft, so kann ich gar nichts Bestimmtes sagen. Wahrscheinlich komme ich erst am Gründonnerstag. Am Montag nach der Konfirmation könnte ich schon in Calw bleiben (zum Ausflug), aber da müsse ich ja einen ganzen Tag verlieren, so reise ich lieber gleich am Montag wieder ab. Euer Ausflug wird ja wohl ohne mich ebenso schön werden, als wenn ich dawäre. Der Fall, dass ich plötzlich nicht mehr atmen konnte, trat in letzter Woche fast täglich ein. Heute fühle ich mich schrecklich elend. Das Atmen schmerzt mich so. Es ist kein Stich oder Brennen, sondern es ist als würde mir die Kehle zugeschnürt u. innen in der Brust ist es ein krampfhaftes Zusammenziehen. In der Vakanz, der letzten vor dem Examen, gilt es recht zu schaffen. Hoffentlich sind noch nicht viele Confirmationsgeschenke da. Wieviele habe ich denn schon? Von Onkel David wünsche ich mir (wenn möglich) das Alte Testament der Bibelerklärung, das neue besitze ich schon seit 1 Jahr.
Am Mittwoch passierte mir beim Fensterschliessen das Unglück, dass ich eine Scheibe zertrümmerte. Sie kostete 60 Pf. Ich tat es nicht aus Mutwillen, es ist mir selbst ein Rätsel, wie es eigentlich zuging.-
Zu Schaffen gibt es immer sehr viel, am liebsten ist mir immer Aufsatz u. Lateinisch.
Bitte, tut den beigelegten Brief an Herrn Bäuchle in ein Couvert u. schickt ihn durch Hans zu ihm.
Mit Gruss und Kuss!
Hermann”

Oben links steht in der Handschrift von Hermanns Vater Johannes Hesse:

“bitte zurück! u. Hermann nicht merken lassen davon, dass sein Brief Ihnen mitgeteilt worden. J.H.”

Aus: Hermann Hesse in Briefen und Lebenszeugnissen 1877 – 1895. Hg. v. Ninon Hesse. Suhrkamp 1966.



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