Kris Martin in Hannover: "Every Day of the Weak" in der Kestnergesellschaft, bis Februar 2013
Immer wieder sind es die kleinen Verschiebungen, die winzigen Veränderungen, die seine Kunst ausmachen: Kris Martin, der belgische Künstler, 40 Jahre jung, stellt in der kestnergesellschaft Hannover aus, seine erste umfassende Einzelausstellung. Sogar der Titel zeigt das an - nur ein Buchstabe ist verändert, schon wird aus jedem Tag der Woche (week) ein jeder Tag eines "schwachen" Menschen (weak), eines Idioten.
Oder sehen Sie sich diese Glocke an, die vor dem Ausstellungsgebäude, mitten zwischen Straßenbaustellen, gegenwärtig das Stadtbild prägt: Sie schwingt zwar ab und zu, aber erklingen wird sie nicht, denn der Klöppel fehlt.
Kris Martin scheint auch die Zeit auf den Kopf zu stellen. Eine Kugel, die in 1000 Jahren explodieren wird, macht ihr Ende zum Anfang, ordnet die Zukunft der Gegenwart zu (soll man jetzt schon Angst haben? Und die Sicherheitskräfte des Museums mobilisieren?), verlegt die Vergangenheit weit in die Zukunft.
Der Künstler spielt nicht nur mit der Zeit, sondern auch mit dem Ort. Der begehbare Heißluftballon entfaltet den besonderen Zauber der Fallschirmseide am falschen Ort, er wird niemals abheben. Die Gipfel sind von einem anderen Ort versetzt und werden erst durch eine winzige Veränderung (ein kleines Kreuz ganz oben) zum Gipfel im Museum ("Summit", 2009). Die Anzeigetafel (am Bahnhof? am Flughafen?) bewegt zwar in unberechenbarem Abstand ihre "Lettern"oder Ziffern - aber sie zeigt gar nichts an, weil es weder Buchstaben noch Zahlen gibt; Zeit und Ort sind aufgehoben ("Trinity I", 2009). (Die Fantasie der Betrachterin, des Betrachters aber ist immer frei von Ort und Zeit.)
"Spiel" ist dabei nicht leichtfertig oder oberflächlich gemeint - Spiel mit ernstem Hintergrund. Witz und Trauer seien für ihn nahe beieinander; die moralische Seite sei ihm wichtig; die Grenze zum Zynismus möchte er nicht überschreiten, darauf sei er fast schon ängstlich bedacht - das sind Äußerungen, die er im Gespräch macht. ("Ich bin kein Freund von Zynismus" ist auch ein NDR-Interview überschrieben.) Aber er hat auch die Freiheit, sich nicht an Programme zu halten, irgendwelchen Bewegungen anzuschließen - er geht seinen, in die Zukunft gerichteten Weg.
Seine Kunst nur mit "Ready Mades" oder "Objet trouvé" (nach Marcel Duchamp seit 1913) in Zusammenhang zu bringen scheint mir deshalb zu kurz gefasst. Allerdings geht auch Kris Martin oft von vorgefundenen Gegenständen aus, da ist die Gemeinsamkeit. Zum Beispiel hat er Kieselsteine bei stundenlangen Strandspaziergängen aufgelesen, deren Muster, richtig zusammengelegt, die Worte "I Am not an Idiot" ergeben.
Etliche seiner Werke nehmen auf den Idioten Bezug. Es ist ein "Spiel mit sich selber als scheinbar einfältigem Menschen, der doch alles durchschaut" (Madeleine Schuppli im Katalogtext). Wem das Wort zu krass ist, der mag dafür "Narr" einsetzen, aber ursprünglich bezieht er sich auf Dostojewskis Roman "Der Idiot". Die englische Ausgabe hat er in täglicher Arbeit über fünf Monate von Hand abgeschrieben - dabei aber wieder eine winzige Veränderung eingefügt, nämlich den Namen der Hauptfigur Fürst Myschkin durch den eigenen Namen Kris Martin ersetzt.
Die Ausstellung ist einen oder mehrere Besuche wert, weil sie der Fantasie, der eigenen Deutung viel Raum lässt. Der Katalog ist eine wertvolle Ergänzung, nicht zuletzt durch die Aufsätze "Aus der Zeit" und "Dead or Alive? Dead and alive! Kris Martin und das Selbstbildnis" (der den verborgenen autobiografischen Bezügen nachspürt).
Weitere Informationen auf der Netzseite der kestnergesellschaft.
Text und Fotos (bis auf das untere): Helge Mücke, Hannover. Die Titel der Werke von oben nach unten:"For Whom", 2012; "1000 Years", 2009; "T.Y.F.F. S.H.", 2009; "Summit", 2009 (Ausschnitt); "Idiot", 2005 - dieses Foto wurde als Pressebild zur Verfügung gestellt: (C) Kris Martin; Sies + Höke, Düsseldorf.