Keine Angst vor dem islamischen Gesetz in Amerika

Von Eliyahu Stern Aus dem Englischen übersetzt von Stefan Sasse

Keine Angst vor dem islamischen Gesetz in Amerika

Mehr als ein Dutzend amerikanischer Staaten diskutieren derzeit, Teile des islamischen Schariah-Gesetzes zu verbieten. Einige der angesprochenen Maßnahmen würden es Muslimen verbieten, bestimmte Streits über Essensgesetze oder Heirat durch religiöse Vermittlung zu regeln, während andere sogar komplette Teile des islamischen Lebens stigmatisieren würden: ein Gesetz, das kürzlich von der Tennessee General Assembly verabschiedet wurde, setzt die Schariah gar mit einem Regelwerk gleich, das "die Zerstörung der nationalen Existenz der Vereinigten Staaten" befördere.

Förderer dieses Gesetzes behaupten, dass solche Maßnahmen notwendig sind, um das Land gegen Terrorismus von innen zu schützen und seine jüdisch-christlichen Werte zu bewahren. Der republikanische Präsidentschaftskandidat Newt Gingrich sagte gar: "Die Schariah ist eine tödliche Bedrohung für das Überleben der Freiheit in den Vereinigten Staaten und der Welt wie wir sie kennen."
Das ist absolut falsch. Der Kreuzzug gegen die Schariah unterminiert die amerikanische Demokratie, ignoriert die erfolgreiche Geschichte dieses Landes auf dem Feld der religiösen Toleranz und Assimiliation und schafft einen gefährlichen Graben zwischen Amerika und seiner am schnellsten wachsenden religiösen Minderheit.
Die Vorstellung, dass die Schariah die amerikanische Sicherheit bedrohe, besitzt eine verstörende Ähnlichkeit zu dem Vorwurf im Europa des 19. Jahrhunderts, dass das jüdische Recht aufrührerisch sei. 1807 berief Napoleon eine Versammlung von rabbinischen Autoritäten ein um die Frage zu klären, ob das jüdische Recht die Juden davon abhielte, loyale Bürger der Republik zu sein (sie sagten nein).
Die Furcht, dass das jüdische Recht politische Illoyalität gebähren würde, war nicht auf die politischen Eliten beschränkt. Führende europäische Philosophen unterstützten die Idee ebenfalls. Kant argumentierte, dass die partikularistische Natur der "jüdischen Gesetze" die Juden "anderen Völkern zum Feind" machen würde. Und Hegel behauptete, dass die jüdischen Speisegesetze und andere mosaische Gesetze verhindern würden, dass die Juden sich mit ihren preußischen Mitbürgern identifizieren könnten und stellte so ihre Eignung zum loyalen Staatsbürger in Frage.
Der deutsche Philosoph Bruno Bauer bot den Juden einen Handel an: wenn sie sich vom jüdischen Recht lossagten würden sie die volle rechtliche Gleichstellung erhalten. Er bestand darauf, dass ansonsten die Gesetze am Sabbat nicht zu arbeiten es den Juden unmöglich machen würden, echte Bürger zu sein (Bauer ignorierte dabei bequemerweise den Umstand, dass viele voll regeltreue Juden den Sabbat verletzt hatten um in den preußischen Kriegen gegen Napoleon zu kämpfen).
Während dieses Zeitalters wurde das Christentum entweder als allgemeingültiges Fundament des Staates oder aber als Religion gesehen, die mit den säkularen Gesetzen des Landes friedlich koexistieren konnte. Demgegenüber galt das Judentum als Religion, die mit dem Rechtssystem im Widerspruch stand - was Juden im besten Falle zu einer unassimilierbaren Minderheit, im schlimmsten Falle zu einer Art fünften Kolonne machte. Erst im späten 19. Jahrhundert wurde den Juden in Westeuropa das volle Bürgerrecht gewährt (und selbst das war eine sehr kurzlebige Entwicklung).
Die meisten Amerikaner heute wären entsetzt, wenn die Muslime ähnliche rechtliche Benachteiligungen wie die Juden im Europa des 19. Jahrhunderts erleiden würden. Trotzdem gibt es klare Anzeichen, dass viele Amerikaner die Muslime ihres Landes als illoyal betrachten. In einer aktuellen Gallup-Umrfrage gaben nur 56% der Protestanten an, dass Muslime loyale Amerikaner sein können.
Verdacht und Misstrauen sind ohne Zweifel von der Vorstellung genährt, dass amerikanische Muslime mit den extremen Islamisten des Nahen Ostens und Europas gleichzusetzen seien. Amerikanische Muslime aber sind anders. Sie sind natürliche Kandidaten für Assimilation. Sie sind die demographisch jüngste religiöse Gruppe in Amerika, und die meisten ihrer Eltern kommen nicht einmal aus dem Nahen Osten, sondern haben ihre Wurzeln in Südostasien. Eine Umfrage des Pew Research Center ergab jüngst, dass muslimische Amerikaner das höchste Niveau an Integration unter den großen amerikanischen religiösen Gruppen besitzen und eine größere Toleranz gegenüber Menschen anderen Glaubens besitzen als Protestanten, Katholiken oder Juden.
Genügend Zeit vorausgesetzt werden amerikanische Muslime, wie die vielen anderen religiösen Minderheiten vor ihnen, ihre Traditionen und religiösen Gesetze wo nötig den amerikanischen Werten anpassen.
Amerikas Außerordentlichkeit beruht auf seiner Fähigkeit, sich selbst zu verwandeln - ökonomisch, kulturell und religiös. Im 20. Jahrhundert sind wir gut damit gefahren, eine jüdisch-christliche Ethik zu fördern, Unterschiede zu respektieren und die Gemeinsamkeiten zwischen Juden, Katholiken und Protestanten zu betonen. Heute brauchen wir eine abrahamitische Ethik, die den Islam in der religiösen Komplexität des amerikanischen Lebens willkommen heißt.
Die Anti-Schariah-Gesetzgebung fördert eine feindselige Umgebung, die das Wachstum von Amerikas toleranter Islamströmung behindert. Die Fortsetzung von Amerikas pluralistischen religiösen Traditionen hängt von der Fähigkeit ab, zwischen der Bestrafung von den Terrorismus unterstützenden Gruppen und der Beschuldigung eines Glaubens für diesen Terrorismus, der ungefähr ein Viertel der Weltbevölkerung repräsentiert, zu unterscheiden. 

Eliyahu Stern ist ein Assistant Professor of Religious Studies and History in Yale und Autor des bald erscheinenden “The Genius: Elijah of Vilna and the Making of Modern Judaism.”
Dieser Artikel erschien erstmals in der New York Times. Übersetzung und Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Eliyahu Stern und der New York Times. 
Dieser Artikel ist von der Piratenlizenz des Oeffinger Freidenker ausgenommen. 


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