Jeder ein Lied (1): Robin Hood läuft 500 Meilen zu Mary und darf nicht weinen

„Could have been happy ever after, living like we’re in a fairy tale“, schmalzt es aus unserem Fernsehr. Es ist Sonntagmittag und die ganze Familie hat sich auf dem Sofa versammelt. Corona-bedingt haben wir jetzt mehr gemeinsame Zeit und spielen zusammen „Jeder ein Lied“.

Die Regeln sind einfach:

  • Jedes Familienmitglied sucht nacheinander einen Song auf YouTube aus, den wir uns dann gemeinsam anhören.
  • Das Lied wird bis zum Ende gespielt, egal wie schlimm es alle anderen finden.
Jeder ein Lied (1): Robin Hood läuft 500 Meilen zu Mary und darf nicht weinen

Jeder ein Lied (1): Robin Hood läuft 500 Meilen zu Mary und darf nicht weinen

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Die Frau und ich hatten uns das Spiel vor ein paar Jahren ausgedacht, um einen Einblick in den Musikgeschmack unserer Kinder zu erhalten. Schließlich möchtest du nicht irgendwann zufällig erfahren, dass eins deiner Kinder Vorsitzender des Böhse-Onkelz-Fanclubs Berlin-Moabit ist. Oder sich alle Lieder von Helene Fischer heruntergeladen hat.

Durch das Spiel bleiben wir auch auf dem Laufenden, was die jungen Leute heutzutage so hören. Das ist ja durchaus interessant. Manchmal allerdings mehr so eine Nah-Hirntod-Erfahrung. Zum Beispiel wenn du dir „Johnny Däpp“ von Lorenz Büffel anhören musst. (Ein eher unschöner Moment in meinem Leben.)

Ich möchte hier aber nicht zu kulturpessimistisch klingen. Jede Generation hat das Recht auf Musik, die die eigenen Eltern befremdlich finden. (Ich sage nur: „Hier kommt Kurt, ohne Helm und ohne Gurt“ oder „Schnappi, das kleine Krokodil“)


Anson Seabra: Robin Hood

Zum Einstieg hat die Tochter ein Lied von Anson Seabra ausgesucht, ein Interpret, von dem ich noch nie etwas gehört habe. Laut Internet handelt es sich um einen US-amerikanischen Mittzwanziger, dessen Bekanntheit auf seinem YouTube-Kanal mit rund 350.000 Abonnenten beruht.

In „Robin Hood“ geht es um eine verflossene Liebe. Anson war so unvorsichtig, irgendjemandem alles gegeben zu haben, was er zu verlieren hatte.

My skin (War er mit dem Typ aus „Schweigen der Lämmer zusammen?), my soul (Oder mit einer satanischen Hohepriesterin?), my finest jewels. (Hoffentlich der großmütterliche Erbschmuck und keine lyrische Umschreibung seiner Hoden!)

Nun hat er den Salat, denn diese Person hat das alles an jemanden weitergegeben, der viel weniger wert ist als Anson. Meint zumindest Anson. Hätte er mal bei Wham! richtig zugehört, wäre ihm das alles vielleicht erspart geblieben. („Last Christmas I gave you my heart, but the very next day you gave it away.”)

Die Stimme von Anson Seabra ist ein wenig weinerlich, was aber ganz gut zum Inhalt passt, und es tut auch nicht weh, sich das anzuhören. Für mich klingt er ein wenig wie Shawn Mendes, aber das hat nichts zu sagen, denn für mich hören sich alle neueren männlichen Interpreten wie Shawn Mendes an. Auch Ed Sheeran.

Die Tochter rollt mit den Augen, während sie schmachtend mitsingt.


Bausa: Mary

Der Sohn entscheidet sich für ein Lied von Bausa, einem Deutschrapper, der mir ebenfalls vollkommen unbekannt ist. Wikipedia klärt mich auf, dass er früher mit Capo und Haftbefehl zusammengearbeitet hat – zumindest von letzterem habe ich schon mal gehört. Der bürgerliche Name von Bausa lautet Julian Otto, und er lebt in Bietigheim-Bissingen, was beides ungefähr so Gangsta wie das Klöppeln von Topflappen ist.

Zu Beginn des Videos fährt der gute Bausa in einem schnittigen Sportwagen vor und fragt sing-rappend: „Oh Mary, was geht? Was geht ab?“ Nicht allzu viel, vermute ich, wenn ich mir seinen unförmigen, ballonseidenen Trainingsanzug, der größtenteils in kanarienvogelgelb gehalten ist, anschaue.

Bausa teilt meinen Pessimismus bezüglich seiner Chancen bei Mary aber nicht, und er rennt für ihre Liebe nachts durch die Stadt.

In meiner Stadt gibt es kein Uber, Baby, wie komm‘ ich zu dir?

Dass es kein Uber gibt, sollte jemanden, der in Bietigheim-Bissingen lebt, eigentlich nicht wirklich überraschen. Warum er nicht einfach seinen Sportwagen nimmt, um zu Mary zu gelangen, bleibt offen.

Irgendwann taucht in dem Video eine Gruppe junger, nicht unattraktiver Frauen auf BMX-Rädern auf. Möglicherweise die besungene Mary, die mit ihren Freundinnen nach Bausa Ausschau hält, der immer noch durch die Nacht irrt. (Die Zeile „Ich bin high von mei’m Supply.“ könnte eine Erklärung für seine Orientierungslosigkeit liefern.)

Das Lied ist jetzt vielleicht nicht gerade Weltklasse, aber ich habe auf jeden Fall schon Schlimmeres gehört (siehe Lorenz Büffel).


The Cure: Boys Don’t Cry

Die Frau greift bei ihrer Liedwahl mit The Cure tief in die 80er-New-Wave-Kiste. Der Song gibt mir das deprimierende Gefühl, sehr alt zu sein, weil die Band-Mitglieder in dem Video noch so jung sind.

Die Frau klärt mich auf, es handele sich doch um Kinder-Darsteller, die Band sei nur als Schatten im Hintergrund zu sehen. Nun fühle ich mich noch älter, denn diese Mini-Playback-Show-Kinder sind deutlich jünger als der Sohn und die Tochter.

Nebenbei google ich nach dem Cure-Sänger Robert Smith. Der ist 1959 geboren – das heißt, er hat in fünf Jahren das Rentenalter erreicht – und seit 1976 Frontmann von The Cure. Da war ich gerade mal ein Jahr alt, was mich nun geradezu jugendlich erscheinen lässt.

Aktuelle Bilder von Robert Smith zeugen davon, dass das Popstar-Leben nicht spurlos an ihm vorbeigegangen ist. Seine Gothic-Mähne ist leicht ergraut und auch nicht mehr ganz so füllig. Dafür hat er in den letzten 40 Jahren das ein oder andere Kilo zugelegt, was er durch sackförmige, wallende Kleidung zu kaschieren versucht. Mit mäßigem Erfolg. Aber genug des hair-, body- und fashion-shamings.

Inhaltlich geht es bei „Boys Don’t Cry” ähnlich wie bei „Robin Hood“ um eine unglückliche Liebe. Im Gegensatz zu Anson Seabra hat Robert Smith es aber selbst verkackt:

But I know this time
I have said too much
Been too unkind.

Nun würde er gerne weinen, aber Jungs heulen ja nicht. Die Frau, die jahrelang im Bereich Gender Studies geforscht hat, singt voller Empathie mit, da sie reflektiert, wie der arme Robert unter dieser geschlechterstereotypischen Festschreibung akzeptabler Verhaltensweisen für Jungs zu leiden hat.

Die Kinder nehmen den Song mit einem gewissen Wohlwollen auf. Zumindest greifen sie nicht zu ihren Handys, um ihre Social-Media-Accounts zu kontrollieren.


The Proclaimers: I’m Gonna Be (500 Miles)

Nun bin ich an der Reihe, was beim Rest der Familie ein leichtes Unbehagen auslöst. Nicht zu Unrecht, denn mein Musikgeschmack ist – euphemistisch ausgedrückt – etwas „speziell“. Unter anderem habe ich eine gewisse Affinität zu 60er-Jahre Schlagern, die hier sonst niemand teilt.

Zur Beruhigung und Erleichterung der Familie spiele ich „I’m Gonna Be (500 Miles)“ von The Proclaimers. Die Band besteht aus den Zwillingsbrüdern Charlie und Craig Reid, die aus Schottland stammen und auch so aussehen. Somit haben ihnen konventionelle Schönheitsideale eine Karriere im Model-Business versperrt, weswegen sie sich glücklicherweise für die Musik entschieden haben.

„I’m Gonna Be“ wurde bereits 1988 veröffentlicht, erlangte aber erst fünf Jahre später größere Bekanntheit im Film „Benny und Joon“. Ein sehr sehenswerter Film mit Johnny Depp, als dieser noch Bravo-Starschnitt-Potenzial hatte und nicht als grenzdebiler Captain Sparrow durch die „Fluch in der Karibik“-Filme stakste.

Bei Wikipedia lese ich, dass der Song unter anderem von Werder Bremen bei Torerfolgen abgespielt wird. Also nicht allzu häufig.

Möglicherweise war „I’m Gonna Be“ eine Inspiration für den durch die Stadt zu Mary rennenden Bausa. Auch Charlie und Craig laufen 500 Meilen zu ihrer Angebeteten und dann nochmal 500 Meilen. (Wahrscheinlich irgend so ein Zwillingsding.)

So richtig durchdacht scheint dieser Fußmarsch allerdings nicht zu sein:

Just to be the man who walks a thousand miles,
To fall down at your door.

Da sieht es mit amouröser Zweisamkeit eher schlecht aus. Von Knick-Knack ganz zu schweigen.

Die Tochter meint, sie kennt das Lied. Aus „How I met your mother“. Da soll noch jemand sagen, Fernsehen bildet nicht!


Hier unser komplette Jeder-ein-Lied-Playlist zum Mithören:

Jeder ein Lied (1): Robin Hood läuft 500 Meilen zu Mary und darf nicht weinen

Der virtuelle Spendenhut

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