Wäre Ein Engel an meiner Tafel ein Roman, wäre er einer der tragischeren, traurigeren. Einer, bei dem man immer ganz dicht bei der Protagonistin ist und hofft, dass sich für sie doch noch alles zum Guten wendet. Einer, bei dem man sich fragt, warum das Leben für manche scheinbar so grausam und ungerecht sein muss. Einer, bei dem man richtig mitleidet, ihn zum Schluss aber doch zuschlägt und sich freut, dass alles doch nur ein Roman war.
Ein Engel an meiner Tafel ist aber kein Roman. Es ist Janet Frames Autobiographie. Die Geschichte einer Kindheit und Jugend in Neuseeland, gezeichnet von Schicksalsschlägen.
Janet Frame wächst als drittes von fünf Kindern unter ärmlichen Bedingungen auf. Ihr Bruder erkrankt an Epilepsie, zwei Schwestern ertrinken. Sie selbst spürt in sich eine tiefe Traurigkeit, sie ist Außenseiterin, schüchtern, fast schon menschenscheu. Unscheinbar. Sie schämt sich, weil sie schlechte Zähne hat. Sie weiß nicht, was sie mit ihrem Leben anfangen soll, nur, dass sie schreiben will. Nach einem Selbstmordversuch wird sie in die Psychiatrie eingeliefert – Diagnose: Schizophrenie.
Leider wächst Janet in den 1930ern auf, in der psychiatrische Diagnosen alles andere als zuverlässig sind und die Therapie zumeist aus qualvollen Elektroschockbehandlungen besteht. In den kurzen Intervallen, die sie nicht in der Psychiatrie verbringt, versucht Janet zu studieren, arbeitet als Zimmermädchen, um ein wenig Geld zu verdienen. Schreibt und versucht, ihre Gedichte und Geschichten zu veröffentlichen.
Das Schreiben rettet ihr letztendlich das Leben, in mehrfacher Hinsicht. Wenige Tage vor einer geplanten Lobotomie (Info) erreicht sie die Nachricht, dass man ihr einen Literaturpreis verleiht. Sie wird entlassen. Nach acht Jahren.
All das erzählt Janet Frame, teilweise auf eine erschreckend nüchterne Art, so, als wäre das gar nicht ihr Leben, über das sie da schreibt. Als wäre es ein ganz anderes Leben, eines, dass sie sich selbst auch nur ausgedacht hat. Kann denn einem einzelnen Menschen so viel Unglück wiederfahren?
Teilweise liest es sich wie eine Aneinanderreihung von Ereignissen, die in der Erzählung nacheinander abgehakt werden und ich frage mich, wo da die Gefühle sind. Bei Janet Frame. Vielleicht liegt das an dem zeitlichen Abstand, mit dem sie ihre Geschichte aufgeschrieben hat, der auch diesen emotionalen Abstand mit sich gebracht hat – vielleicht ist der auch nötig, um das alles erzählen zu können, ohne daran zu zerbrechen.
Bei mir löst Ein Engel an meiner Tafel hingegen viele verschiedene Gefühle aus – Mitleid, Wut, Unverständnis. Mitleid mit Janet, weil es ihr so schwer gemacht wird. Wut über das System der Psychiatrie, das nicht auf seine Patienten eingeht, und auch Unverständnis über so viel Gleichgültigkeit. Gleichzeitig fühle ich mich Janet Frame sehr nah – und nicht nur, weil wir am selben Tag Geburtstag haben.
Janet Frame lebt leider nicht mehr. 2004 ist sie in ihrer Heimat Neuseeland gestorben. Ich hätte sie gerne kennengelernt. Nicht nur literarisch.
Gebundene Ausgabe: 285 Seiten
Erschienen bei C.H. Beck
September 2012
Aus dem Englischen von Lilian Faschinger
Originaltitel: An Angel at my Table
ISBN: 978-3-406-63955-5